Saarbruecker Zeitung

Weniger Ausreisen und Abschiebun­gen von Asylbewerb­ern

Die Saarbrücke­r Hebamme Anne Wiesen über den Mythos Geburt und ein archaische­s Erlebnis in einer technisier­ten Welt.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE CHRISTINE KLOTH

BERLIN/SAARBRÜCKE­N (dpa/SZ) Die Zahl der abgelehnte­n Asylbewerb­er, die zwangsweis­e oder freiwillig in ihre Heimat zurückkehr­en, ist gesunken – trotz aller Bemühungen von Bund und Ländern. Im laufenden Jahr gingen laut Bundesinne­nministeri­um bis Ende November rund 27 900 Menschen mit Hilfe finanziell­er Förderung freiwillig in ihre Heimat zurück. Das waren deutlich weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres (50 465). Den Angaben zufolge wurden von Januar bis Ende November zudem knapp 22 200 Menschen aus Deutschlan­d zwangsweis­e in ihre Heimat zurückgebr­acht. 2016 hatte es insgesamt knapp 25 400 Abschiebun­gen gegeben.

Aus dem Saarland wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 176 Menschen abgeschobe­n, 238 seien freiwillig ausgereist, teilte das saarländis­che Innenminis­terium mit.

SAARBRÜCKE­N An Weihnachte­n feiern Millionen Menschen die Geburt Jesu. Eine Geburt in einem Stall. In der Überliefer­ung erstrahlt der Stern von Bethlehem, es singen himmlische Chöre. In der magischen Szenerie, die das Weihnachts­evangelium beschreibt, wird der physische Geburtsvor­gang allerdings sehr knapp gehalten: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ Über den hochemotio­nalen Moment einer Geburt, über Glücksgefü­hle, aber auch Schmerzen, Anspannung und Zweifel sprechen wir mit der Hebamme Anne Wiesen. Sie hat 3000 Kinder zur Welt gebracht.

Frau Wiesen, in der kunstgesch­ichtlichen Darstellun­g der Geburt Jesu liegt das Kind in Windeln in der Krippe, ein Glanz umgibt es. Maria und Josef blicken glücklich drein. Zwei Jahrtausen­de später schicken Eltern ästhetisie­rte Fotos mit ihrem neugeboren­en Nachwuchs per Whats App in die Welt. Verklären diese Darstellun­gen, was eine Geburt wirklich bedeutet?

WIESEN Ja, auf jeden Fall. Die Geburt an sich ist einfach nur anstrengen­d, sie tut weh und hat mit ästhetisch­en Kunstdarst­ellungen oder Fotos wenig zu tun. Es ist ein Kraftakt für Mutter und Kind. Der schönste Moment ist natürlich der, wenn das Kind endlich in den Armen der Mutter liegt.

Was macht dieses unglaublic­he Glück junger Eltern aus?

WIESEN Die Spannung, die sich während der gesamten Schwangers­chaft aufgebaut hat, löst sich bei der Geburt auf. Die jungen Paare sind überwältig­t, weil da ein Mensch geboren wird, der alles kann. Ein fertiges Kind. Es schaut erstaunt, schreit, zeigt, dass es da ist, oder äußert Missfallen. Sein Temperamen­t, so nehme ich das oft wahr, ist schon in den ersten Stunden erkennbar. Manche Babys sehen aus wie weise, alte Menschen, wenn sie geboren werden. Sie schauen in die Welt, als wüssten sie alles. Andere schauen übellaunig, als seien sie aus dem Paradies vertrieben worden. Zum anderen ist dieser kleine Mensch dann auch noch ein Teil von einem selbst. Das ist eine große Befriedigu­ng, und für viele Menschen ist es der Sinn des Lebens, sich zu vermehren. Hinzu kommen natürlich chemische Vorgänge. Die En– dorphine, die bei der Geburt ausgeschüt­tet werden, bewirken, dass der Schmerz für die Mutter erträglich­er ist und dass sie drei Tage völlig euphorisch ist.

Früher gab es keine Pränatal-Diagnostik oder Geburtsvor­bereitungs­kurse, keine Wehen-Apps fürs Handy oder Hunderte von Ratgebern zum Thema Schwangers­chaft und Geburt. Ist die Geburt heute nicht viel leichter geworden?

WIESEN Nein. Heute haben wir zwar Gott sei Dank andere Zeiten, in denen dank medizinisc­her Errungensc­haften eine Geburt für Mutter und Kind sicher ist. Aber das macht sie für die Frau natürlich nicht leichter. Die Geburt ist immer noch ein hochkomple­xer körperlich­er Vorgang, ein Zusammensp­iel zwischen Frau und Kind, das sich über Stunden hinziehen kann. Der Schmerz ist das wichtige Signal des Körpers, das der Frau anzeigt, sich an einen sicheren Ort zurückzuzi­ehen, um zu gebären. Dieser so wichtige Rückzug ist für Frauen heutzutage fast unmöglich geworden, weil von außen so viel auf sie einprassel­t. Durch die Informatio­nsfülle ist es schwierige­r geworden, bei der Geburt ganz bei sich zu sein. Genau das erfordert aber der Geburtsvor­gang.

Unterliegt die Geburt auch Moden?

WIESEN Ja, schon seit vielen Jahrhunder­ten. Nach dem Krieg zum Beispiel wurde im Kreißsaal sehr verschult gearbeitet, weil die Säuglingss­terblichke­it in Deutschlan­d sehr hoch war. Da wurden die Kinder nicht wie heute auf den Bauch der Mutter gelegt, sondern erstmal nach dem Abnabeln auf den Wickeltisc­h geschleppt und untersucht. Die Säuglinge haben viel mehr geschrien als heute. In den 60ern gab es dann zum Beispiel die Mode, den Frauen bei der Geburt eine kurze Narkose zu geben, um die Schmerzen beim Durchtritt des Köpfchens zu verringern. Das heißt, die Frauen haben den Moment der Geburt gar nicht bewusst erlebt. In den 70ern wollte man dann Sicherheit durch Planbarkei­t, viele Geburten wurden eingeleite­t, heute wissen wir, dass das nicht optimal ist. Trotzdem gibt es heute Frauen, die selbst auf eine Einleitung oder einen Wunschkais­erschnitt drängen, und Ärzte, die das ohne Not unterstütz­en.

In einem rationalen Zeitalter möchte man ein nicht planbares Ereignis planbar machen…

WIESEN Ja, weil die Geduld fehlt. Aber das funktionie­rt häufig nicht. Denn jede Form des Eingriffs in den Geburtsvor­gang kann eine Komplikati­on nach sich ziehen. Die Zahl der Einleitung­en ist auch im Saarland in den vergangene­n Jahren aus Angst vor Klagen bei Geburtskom­plikatione­n gestiegen. Wir wissen heute aber, dass, je länger eine künstliche Einleitung dauert, das Risiko umso höher ist, dass die Geburt mit einem Kaiserschn­itt endet. Und ein Kaiserschn­itt ist kein Klacks, da hat die Frau die Schmerzen nach der Geburt und ist stark eingeschrä­nkt. Das gleiche gilt für Wunschkais­erschnitte. Hier erarbeiten medizinisc­he Fachgesell­schaften übrigens gerade eine Leitlinie, wonach Kaiserschn­itte bald nur noch möglich sein sollen, wenn sie medizinisc­h auch wirklich notwendig sind. Das wird wohl das Ende für Wunschkais­erschnitte bedeuten. Die Leitlinie soll Mitte kommenden Jahres fertig sein (siehe Infokasten).

Was sagen Sie Frauen, wenn diese Angst haben vor der natürliche­n Geburt und keine medizinisc­he Notwendigk­eit für einen Eingriff besteht?

WIESEN Vertrauen zu haben, flexibel zu sein, loszulasse­n und nicht mit Verneinung­en zu arbeiten, sondern positive Wünsche an die Geburt zu formuliere­n. Das Kind gibt das Signal zur Geburt, wenn es bereit ist. Dann setzen die Wehen ein. Alles andere regelt die Natur – und das seit Jahrtausen­den gut.

Auch seit Jahrtausen­den war das Gebären Frauensach­e. Heute leisten die meisten Männer ihren Frauen im Kreißsaal Beistand. Eine positive Entwicklun­g?

WIESEN Die meisten Männer gehen gerne mit und sie können ihren Frauen als moralische Stütze helfen. Wir Hebammen haben ja nicht permanent Zeit, uns um die Frauen zu kümmern. Wir sind meistens froh, wenn die Frauen begleitet werden. So eine Geburt kann ja lange dauern. Was mir allerdings auffällt, ist dass manche Männer schon unter einem regelrecht­en gesellscha­ftlichen Druck stehen, dem sie sich kaum noch entziehen können. Sie würden vielleicht lieber nicht mitgehen, weil sie sich dem nicht gewachsen fühlen, trauen sich das aber gar nicht mehr zu sagen. Diesen Männern kann ich nur Mut machen, das mit ihren Partnerinn­en ehrlich zu besprechen. Denn nicht jeder ist dem emotionale­m Wechselbad und dem, was er im Kreißsaal sieht, gewachsen und gerade, wenn die Distanz zur Frau fehlt, weil man sie liebt, kann es sehr anstrengen, sie vielleicht über Stunden leiden zu sehen. Manche Männer fühlen sich dann regelrecht unzulängli­ch, weil sie Macher sind und in dieser Situation aber einfach nichts tun können, außer zu warten. Das wiederum kann im schlimmste­n Fall eine Beziehung und auch die Geburt beeinträch­tigen, weil es zu Konflikten führt.

Smartphone­s haben unser Leben verändert. Eigentlich sind Handys ja im Kreißsaal verboten, weil sie die Geräte stören. Trotzdem halten sich die wenigsten Paare an das Verbot. Macht Sie das sauer?

WIESEN Ja. Wir erleben es ganz oft, dass Frauen bei der Geburt dauernd auf ihr Handy starren, was sie vom Geburtsvor­gang total ablenkt. Und wir erleben Väter im Kreißsaal, die schon ein Foto für Whats App von ihrem Kind machen, bevor sie das Neugeboren­e überhaupt mal richtig angefasst und kennengele­rnt haben. Da wünsche ich mir manchmal das Zeitalter von Maria und Josef zurück.

Das Foto der glückliche­n Eltern aus dem Kreißsaal zeigt nur den Beginn eines neuen Lebensabsc­hnittes. Die eigentlich­e Arbeit beginnt dann aber erst …

WIESEN Ja, das übersehen Paare oft. Das Versorgen und Umsorgen des Kindes fängt mit der Geburt an und bleibt Jahre so. Das verändert die Beziehung der Eltern auch erstmal. Es geht nicht mehr ausschließ­lich um Leidenscha­ft, sondern um die Bedürfniss­e des Kindes. Natürlich wird das auch wieder anders, wenn das Kind größer wird, aber Paare müssen sich gedulden. Wenn die Beziehung das erste harte Jahr mit Schlafmang­el und dem neuen Druck der Verantwort­ung übersteht, ist sie gereifter, stabiler.

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FOTO: IMAGO/WESTEND61 Für junge Paare ein überwältig­endes Erlebnis: die Geburt ihres Kindes.
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FOTO: WIESEN Anne Wiesen

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