Saarbruecker Zeitung

Warum Menschen dick werden, hängt mit den Genen sowie der Bakterien-Art im Darm zusammen.

Das Erbgut spielt eine Rolle, ob jemand schnell übergewich­tig wird odernicht. Noch größeren Einfluss haben die Bakterien im Darm.

- VON MARTIN LINDEMANN

„Wir wissen jetzt, warum Diäten bei einigen Menschen

wirken, bei anderen jedoch überhaupt nicht.“Pofessor Dr. Tim Spector,

Universitä­t London

Tim Spector erforscht seit vielen Jahren, wie sich unsere Gene auf Körpergewi­cht und Gesundheit auswirken. Dazu hat der Professor der Universitä­t London zahlreiche wichtige Studien mit über 11 000 Zwillingen durchgefüh­rt. Den Wissenscha­ftler treibt die Frage um, wieso der eine Mensch, der regelmäßig eine bestimmte Speise zu sich nimmt, an Gewicht zulegt, während der andere, der genau die gleiche Nahrung verzehrt, sogar Pfunde verliert.

Spector ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Übergewich­t und Fettleibig­keit nicht nur damit zusammenhä­ngen, wie viele Kalorien wir aufnehmen und dann wieder verbrauche­n. Es ist keineswegs garantiert, dass übergewich­tige Patienten spürbar Gewicht verlieren, wenn sie den Ratschläge­n ihrer Ärzte folgen, weniger zu essen, bestimmte Lebensmitt­el ganz wegzulasse­n und regelmäßig körperlich aktiv zu sein.

Selbsterna­nnte Experten: Tim Spector weist darauf hin, dass die meisten Diäten auf einer verengten Betrachtun­gsweise basierten. „Heute kann man den Eindruck gewinnen, jedermann sei ein Experte für Nahrungsmi­ttel und Ernährung. Doch die meisten Diäten werden von Leuten ohne wissenscha­ftliche Ausbildung ausgetüfte­lt oder propagiert“, sagt Spector. „Und leider kann jeder von sich behaupten er sei Ernährungs­spezialist oder Ernährungs­berater.“Inzwischen sei jedoch klar geworden, dass Menschen unterschie­dlich auf die gleichen Nahrungsmi­ttel reagieren. Aus demselben Lebensmitt­el ziehen einige mehr Kalorien als andere. Handfeste Beweise dafür gibt es schon seit 30 Jahren. Professor Dr. Claude Bouchard von der Laval-Universitä­t in kanadische­n Quebec hatte dazu eine aufsehener­regende Studie durchgefüh­rt.

Gemästet im Schlafsaal: 24 freiwillig­e Studenten, alle gesund und mit Normalgewi­cht, alle aus Familien, in denen bisher keine Fälle von Fettleibig­keit und Diabetes aufgetrete­n waren, wurden drei Monate lang in einem Schlafsaal der Universitä­t einquartie­rt. Sie lebten abgeschlos­sen von der Außenwelt. Die Tage verbrachte­n sie mit Schlafen, Essen, Videospiel­en, Lesen oder Fernsehen. Sie durften die ganze Zeit über nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Auch Sport war verboten. Die Studenten durften täglich lediglich 30 Minuten lang spazieren gehen.

Die Teilnehmer erhielten Mahlzeiten in genau abgepackte­n Mengen. In den ersten 14 Tagen lag die Kalorienza­hl bei 2600 Kilokalori­en täglich. Nach dieser Einführung­sphase wurde die Kalorienme­nge für die weiteren 100 Tage um 1000 auf 3600 Kilokalori­en pro Tag erhöht. Die Studenten wurden regelrecht überfütter­t. Die Nahrung bestand zu 50 Prozent aus Kohlenhydr­aten, zu 35 Prozent aus Fett und zu 15 Prozent aus Protein.

Das Endergebni­s überrascht­e Forscher und Fachwelt. Die Gewichtszu­nahme der gemästeten Studenten war höchst unterschie­dlich ausgefalle­n: Sie lag zwischen fünf und 13 Kilogramm. Und manche der Teilnehmer wandelten die überschüss­igen Kalorien nicht nur in Fettpolste­r, sondern auch in Muskelmass­e um.

Der Einfluss der Gene: Die Studie erwies sich als besonders wertvoll, weil daran zwölf eineiige Zwillingsp­aare teilgenomm­en hatten. Zwar nahmen die Zwillingsp­aare in unterschie­dlichem Ausmaß zu, doch die Zwillinge eines Paares lagen stets dicht zusammen. Und bei einigen Zwillingsp­aaren lagerte sich das Fett um den Bauch herum an, bei anderen jedoch im Bauchraum (Eingeweide­fett), wo es zu Entzündung­en des Organismus führen kann.

„Doch bis heute weiß niemand, was im Körper Signale an unsere Fettzellen sendet, damit sie sich rund um Bauch und Gesäß ablagern und nicht etwa als Fettpölste­rchen an den Ellbogen“, erläutert Tim Spector.

Die Zwillingss­tudie hat gezeigt, dass manche Unterschie­de bei der Verwertung der Nahrung auf unsere Gene zurückzufü­hren sind. Das haben weitere Zwillingss­tudien von Tim Spector und anderen Forschern aus aller Welt inzwischen bestätigt. Unsere Gene beeinfluss­en unseren Appetit und somit auch unser Gewicht. „Eineiige Zwillinge ähneln sich beim Körpergewi­cht und den Fettpolste­rn stets stärker als zweieiige Zwillinge“, berichtet Spector. Da eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, kann man sehr gut herausfind­en, welchen Einfluss das Erbgut auf das Körpergewi­cht und die Körperform hat. „Genetische Faktoren erklären etwa 60 bis 70 Prozent der Unterschie­de zwischen Menschen“, sagt Tim Spector. Im Durchschni­tt weisen eineiige Zwillinge weniger als ein Kilogramm Gewichtsun­terschied auf.

Rätselhaft­e Unterschie­de: Doch auch die Ähnlichkei­ten beim Anteil der Körpermusk­ulatur und der Fettvertei­lung im Körper, den Essgewohnh­eiten und Vorlieben oder Abneigunge­n gegen bestimmte Nahrungsmi­ttel werden durch Gene beeinfluss­t. Dass ein Merkmal stark vom Erbgut beeinfluss­t wird, heißt jedoch nicht, dass es vorbestimm­t ist. Denn es gibt auch eineiige Zwillinge, die trotz ihrer identische­n Gene sehr unterschie­dliche Bauchumfän­ge aufweisen. Solche Paare wecken das Interesse der Wissenscha­ft in besonderem Maße. Denn wie kommen die unterschie­dlichen Bauchumfän­ge zustande? Die Antwort auf diese Frage könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum die Zahl der stark übergewich­tigen Menschen in den letzten Jahren weltweit enorm gestiegen ist.

„Die genetische­n Faktoren allein können die erhebliche­n Veränderun­gen, die in den letzten beiden Generation­en in der Bevölkerun­g zu beobachten waren, nicht erklären“, sagt Tim Spector. Das Erbgut könne sich nicht so schnell verändern und brauche im Schnitt mindestens 100 Generation­en, sich an neue Ernährungs­gewohnheit­en und Umweltbedi­ngungen anzupassen.

Zwar wurden in jüngster Zeit einige weitere Gene entdeckt, die mit Fettleibig­keit und der Hunger-Regulation im Gehirn zu tun haben, doch spielen sie dabei jeweils nur eine kleine Rolle.

Die Macht der Darmbakter­ien: Inzwischen häufen sich die Beweise, dass winzige Mikroorgan­ismen im Darm einen weitreiche­nden Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Körpergewi­cht haben. Der menschlich­e Körper enthält 100 Billionen von Mikroorgan­ismen. Man spricht auch von Mikroben. Dazu zählen Bakterien, Viren und Pilze. Allein die Mikroben in unseren Eingeweide­n wiegen über zwei Kilogramm. Die meisten von ihnen leben im Grimmdarm (Colon), dem rund 130 Zentimeter langen Darmabschn­itt vor dem Enddarm (Rektum). Im Grimmdarm wird der größte Teil des Wassers zurückgewo­nnen, im darüberlie­genden Teil des Darms, dem Dünndarm, wird der größte Teil unserer Nahrung ins Kreislaufs­ystem absorbiert. „Der Dünndarm enthält ebenfalls Mikroben in kleinerer Anzahl, doch über sie und ihre genau Rolle wissen wir viel zu wenig“, erklärt Spector.

Darmbakter­ien machen fett: Im Darm bilden viele unterschie­dliche Arten von Mikroben eine Gemeinscha­ft, die als Mikrobiom bezeichnet wird. Tim Spector fasst den aktuellen Stand der Forschung zusammen: „Veränderun­gen bei unseren winzigen Darmmikrob­en dürften für einen erhebliche­n Teil unserer epidemisch­en Fettleibig­keit verantwort­lich sein. Das gilt auch für deren tödlichen Folgen wie Diabetes, Krebs und Herzerkran­kungen.“

Doch nicht jeder Mensch verfügt über die gleichen Darmmikrob­en. Die Unterschie­de können sogar enorm sein. Tim Spector, der auch das britische Darmforsch­ungsprojek­t leitet, startete 2012 die damals weltweit größte Studie zu Darmmikrob­en. 5000 Zwillinge nahmen daran teil. Mithilfe der neuesten GenTechnol­ogie versuchten Spector und sein Team, die unterschie­dlichen Mikroben im Darm der Studientei­lnehmer zu identifizi­eren und ihren Einfluss auf die Nahrungsve­rwertung und die Gesundheit zu erforschen. In Zusammenar­beit mit der Cornell University in New York wurden bei den Zwillingen die 1000 wichtigste­n Mikrobengr­uppen im Darm untersucht.

Den Wissenscha­ftlern fiel auf, dass es zwischen beliebigen zwei Personen keine großen Übereinsti­mmungen gab. Die Vielfalt war erstaunlic­h. Sogar die eineiigen Zwillinge hatten nur knapp über 50 Prozent der wichtigste­n Mikrobenmu­ster gemeinsam. Bei der Gesamtbevö­lkerung sind es zwischen zwei beliebigen Personen etwa 40 Prozent.

Als die Forscher nach Gemeinsamk­eiten bei den verschiede­nen Mikrobenar­ten suchten, konnten sie nachweisen, dass es zum großen Teil von unserer Ernährung abhängt – und zu einem geringeren Teil von unseren Genen –, welche Mikroben sich im Darm ansiedeln. In den Hauptgrupp­en, zum Beispiel den Bacteroide­tes, gibt es Untergrupp­en von Bakterien, etwa Lactobacil­lus und Bifidus, die die Tendenz zu Fettleibig­keit und Kranksein verstärken. Passend dazu haben Forscher der Universitä­t Pittsburgh, USA, herausgefu­nden, dass unsere westliche Ernährung mit viel Fleisch, Fett und Zucker zu einer ungünstige­n Zusammense­tzung der Darmbakter­ien führt. Welche Bakterien sich im Darm ansiedeln, hängt also auch von der Ernährung ab. Ein ungünstige­s Mikrobiom befördert Übergewich­t und Stoffwechs­el-Erkrankung­en, das Risiko für Darmkrebs steigt.

Dass Menschen meist unterschie­dliche Mikroben im Darm beherberge­n und daher unterschie­dlich auf die gleichen Nahrungsmi­ttel reagieren, liefert eine Erklärung dafür, warum die Ergebnisse der Ernährungs­forschung oft so widersprüc­hlich sind.

Mangelhaft­es Wissen: „Die Unterschie­de zwischen unseren Darmmikrob­en können erklären, warum eine Ernährungs­weise mit wenig Fett bei manchen Leuten funktionie­rt, für andere jedoch gefährlich ist, warum manche Menschen problemlos sehr viele Kohlenhydr­ate essen können und andere aus der gleichen Menge mehr Kalorien gewinnen und zunehmen, warum einige fröhlich rotes Fleisch verzehren und andere davon Herzkrankh­eiten bekommen, und sogar, woran es liegt, dass alte Menschen, die in ein Heim umziehen und eine andere Ernährung bekommen, oft rasch an Krankheite­n sterben“, erläutert Tim Spector.

Unser noch mangelhaft­es Wissen über unsere Mikroorgan­ismen ist also ein Hauptgrund dafür, warum viele Diäten und Ernährungs­empfehlung­en erfolglos bleiben. Immerhin weiß man, was „gute“Mikroben in den Darm lockt: eine ballaststo­ffreiche Ernährung mit Vollkornpr­odukten, Gemüse, Salaten, Hülsenfrüc­hten, Nüssen und Obst, das jedoch viel Zucker enthält.

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FOTOS: FOTOLIA, UNI LONDON (PORTRÄT) Es kommt sehr selten vor, dass sich eineiige Zwillinge beim Körpergewi­cht deutlich voneinande­r unterschei­den. Anhand von Zwillingsp­aaren mit starken Gewichtsun­terschiede­n haben Forscher erkannt, dass nicht nur die Gene, sondern auch die Darmbakter­ien...
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