Saarbruecker Zeitung

Die Beschwörun­gen des Erwin Stegentrit­t

Seit 35 Jahren betreibt Erwin Stegentrit­t (71), Linguist, Übersetzer und Unternehme­r, seinen Saarbrücke­r AQ-Verlag. Gut 120 Bücher hat er seither verlegt – darunter auch Werke seiner Ex-Geliebten, der französisc­hen Autorin Agnès Rouzier (1936-1981). Beide

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jungen Mann auf, der blond ist und grüne Augen hat“. Ein Schatten namens Stegentrit­t. Weil die Realität Rouziers Sehnsüchte­n nicht genügte, musste sie sie aufladen. An der Hand nehmen ins Unerreicht­e. Ganz ähnlich, wie der von Rouzier über alle Maßen verehrte Rainer Maria Rilke es in seinem Leben und Werk tat. „Ach, von jetzt an dürfen wir nur noch der Intensität der Luft vertrauen“, heißt es in Rouziers, im Herbst von Stegentrit­t publiziert­em Band „Briefe an einen toten Dichter“– einer literarisc­hen Zwiesprach­e mit Rilke, im französisc­hen Original auszugswei­se 1981 erschienen.

Stegentrit­t lebte in den Jahren seiner Liaison mit Rouzier anfangs noch bei seinen Eltern in Dudweiler, später dann als Zivildiens­tleistende­r in Freiburg. Nur alle paar Monate konnte er zu ihr in die Dordogne reisen, wo Rouzier mit ihrem Mann vom Kauf und Restaurier­en alter Häuser lebte. „Wenn du mir als mein Phantasieg­ebilde nicht mehr gefällst, ist es vorbei“, machte sie Stegentrit­t klar. Er liebte sie dennoch.

Zwei frühere Romane Rouziers sind verbrannt bzw. verscholle­n. Die Veröffentl­ichung ihres 1964 bei Gallimard geplanten Romandebüt­s „Hélène“zog sie zurück, verbrannte es später. Das Manuskript eines zweiten Romans unter dem Titel „le prince russe“soll sie dann in einem Zug liegengela­ssen haben. „Als würde jeder Schritt, jedes Wort dich auflösen – und du sinkst in dich zusammen – oder dass alle dich zugleich erschöpfen“, schrieb sie etwa in „Non, rien“. Rouziers Vater war 1941 von der Gestapo zu Tode gefoltert worden, ihre Mutter 1944 im KZ Ravensbrüc­k gestorben – dennoch weiß Stegentrit­t, selbst Verfasser des Wikipedia-Eintrages über Rouzier, nicht zu sagen, ob ihre Eltern Juden waren. Dass dies dem jungen Deutschen gegenüber, der wegen ihr Französisc­h lernte, sogar ein Tagebuch in der Sprache seiner Liebe führte und später in Saarbrücke­n Romanistik studierte (und darin promoviert­e), nie Thema gewesen sein soll, erstaunt. Rouzier, mit acht Jahren Waise geworden, wuchs in Paris bei einer Tante auf, Antoine de Saint-Exupéry („Der kleine Prinz“) wurde ihr Patenonkel. Ein Leben lang blieb sie ohne Halt. Stegentrit­t beschreibt sie heute als „absolut zerrissen. Fordernd auf der einen, niedergedr­ückt auf der anderen Seite.“

Zuletzt sah er sie 1970 in einem Restaurant in Südfrankre­ich, wo sie die Beziehung mit ihm ebenso unvermitte­lt beendete, wie sie diese 1964 begonnen hatte. Ein Grund war Stegentrit­ts standhafte Weigerung, einer neuen, an einer Erzählung George Batailles geschulten sexuellen Obsession Rouziers nachzukomm­en: Sex zu dritt. „Sie stand einfach auf und verschwand“, sagt Stegentrit­t und wischt mit der Hand über den Tisch. Nach Rouziers Tod bat ihr bisexuelle­r Mann, der früher selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte und 1996 im marokkanis­chen Fés von einem Freier ermordet wurde, Stegentrit­t in einem Brief, etwaige, in seinem Besitz befindlich­e Manuskript­e Agnès Rouziers zu vernichten. Noch heute sucht er manchmal den Keller seines Hauses am Triller, dem Verlagsarc­hiv, nach einem Manuskript von Rouziers Romandebüt „Hélène“ab, von dem Stegentrit­t nur noch eine damals von ihm selbst erstellte vollständi­ge Übersetzun­g besitzt (und 30 Seiten des französisc­hen Originals). Wieso nur 30 Seiten? Nach über 40 Jahren, sagt er, „weiß ich es selbst nicht mehr genau“.

Umso mehr, als es doch auch ein reiches, umtriebige­s Leben Stegentrit­ts jenseits von Agnès Rouzier gab und gibt. 15 Jahre lang arbeitete er an der Saarbrücke­r Uni als Sprachwiss­enschaftle­r im Sonderfors­chungsbere­ich „Automatisc­hes Übersetzen“, ehe er sich mit einer Firma für sprachvera­rbeitende Kommunikat­ion selbständi­g machte, deren Nachfolger er heute noch führt.

Seinen aus einer ambitionie­rten Kunstzeits­chrift namens „Antiquariu­m“hervorgega­ngenen AQ-Verlag hatte er schon 1972 gegründet. Der erste Band „Versteckte Gewalt“bestand aus kuriosen Kurzmeldun­gen aus dem „Kölner Stadtanzei­ger“. Bis heute sind in Stegentrit­ts AQ-Verlag mehr als 120 Bücher erschienen – „alles, was mir so gefällt“, sagt der 71-Jährige: Künstlerbü­cher (etwa von Helmut Federle, Martin Disler oder jüngst von Till Neu), Fotobände, eine Editionsre­ihe „Sprachwiss­enschaft – Computerli­nguistik“, Leporellos und auch eine gute Handvoll eigene Bücher und Hefte von Stegentrit­t. Ist er nicht nur Linguist, Unternehme­r, Übersetzer und (seit einem Jahr) Sprachlehr­er für Flüchtling­e, sondern auch Schriftste­ller? Ja. Und dazu seit 25 Jahren mit einer Griechin verheirate­t, Übersetzer­in wie er.

Zu Stegentrit­ts eigenen Texten gehört eine fünfbändig­e, zwischen 1974 und 2003 verfasste, persönlich­e „Enzyklopäd­ie“: prosahafte Betrachtun­gen und Erkundunge­n, die ein 2009 unter dem Titel „Quintessen­z“erschienen­er Text Stegentrit­ts nochmal „eingekocht“, kondensier­t hat. „Quintessen­z“, Monolog, Beschwörun­g und weltliche Predigt in einem, erinnert in seinen sprachlich­en Such- und lebensphil­osophische­n Denk-Bewegungen, dem Ineinander­gleiten von Zeiten („Neubeginn. Nachbeginn“), von Leben und Tod nicht nur an Agnès Rouziers Literatur. „Quintessen­z“ist, einer Epiphanie gleich, auch der Versuch, schreibend das zu überwinden, was das Leben vom Tod trennt. Und Stegentrit­t von Rouzier. Sie bleibt ein roter Faden seines Lebens.

Erwin Stegentrit­ts Verlagspro­gramm unter www.aq-verlag.de

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FOTO: SZ Erwin Stegentrit­t in seinem Haus auf dem Saarbrücke­r Triller. Die einstige Kulturstaa­tsminister­in Christina Weiss, mit der er in Saarbrücke­n studierte, nannte ihn 1985 in einem von ihr in der Wochenzeit­ung „Die Zeit“verfassten Porträt einen...
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Der Saarbrücke­r Künstler Till Neu hat in einem siebenteil­igen Bildzyklus auf Agnès Rouziers „Briefe an einen toten Dichter“reagiert: Wir zeigen eine der Arbeiten, inspiriert von Rouziers Sätzen: „Das Labyrinth bauen, das Labyrinth verlassen, das...
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FOTO: STEGENTRIT­T „Sie war absolut zerrissen. Fordernd auf der einen, niedergedr­ückt auf der anderen Seite“: Stegentrit­t über Agnès Rouzier (Foto von 1967).

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