Saarbruecker Zeitung

Diskus-Olympiasie­ger Christoph Harting polarisier­t wie kaum ein anderer Sportler in Deutschlan­d.

Christoph Harting ist eine Reizfigur. Er eckt an. Raucht gern. Sport ist für ihn nur ein Alltagsjob. Sein Ziel: in Tokio erneut Olympia-Gold holen.

- VON RALF JARKOWSKI

(dpa) Ein trüber Vormittag. Kalt, feucht, grau. Morgenmuff­el sollten im Bett bleiben. Der Winter liegt in der Luft, aber er lässt sich noch Zeit. Genau wie Christoph Harting. Spät dran ist er heute. Rein in die Berliner Straßenbah­n. Sechs Stationen. Die M4 stoppt. Mit Schwung zirkelt der Diskuswurf-Olympiasie­ger sein Fahrrad aus der Tram. Aus der Ferne sieht das irgendwie nach Mehrkampf aus. Jetzt aber in die Pedale treten, Gas geben. Der jüngere der Gebrüder Harting kommt zu spät zum Krafttrain­ing.

Aber was sind schon 20 Minuten? Harting denkt in größeren Dimensione­n – und wenn schon 20, dann bitte 2020. In knapp drei Jahren will der Riese in Tokio zum zweiten Mal Gold aus dem Ring holen. „Darauf könnt ihr mich festnageln! Ich stehe zu meinen Zielen“, sagt der 2,07-Meter-Mann, als hätte er die Medaille schon in der Tasche. Er will es, und er glaubt fest daran. Wie an diese irren 80 Meter. Typisch Harting. Irgendwie gaga, meinen viele, die ihn kaum oder gar nicht kennen.

„Füchse Town“steht an der Halle, eigentlich das Revier der Berliner Handballer. Im Winter ist es auch Hartings Wohnzimmer, an diesem Tag schneit der Olympiasie­ger zu spät rein. Sein Trainer nickt gütig, winkt lässig ab und lacht. „Ja, ja, da steht es zwischen uns 1:12. Meistens komme ich ja zu spät“, gibt Torsten Lönnfors zu.

„Wenn du ein Profisport­ler sein willst, dann darfst du nicht wie ein Amateur trainieren“– den Spruch an der Hallenwand registrier­t Harting schon gar nicht mehr. Einen Kommentar kann sich der Hüne trotzdem nicht verkneifen: „Wenn man mal einen Kraftraum in den USA gesehen hat, dann weiß man: Deutschlan­d ist ein Sport-Entwicklun­gsland. Von den Unis werden da Millionen investiert, das sind aber private Gelder. Da fehlen uns einfach die Möglichkei­ten – das hemmt uns manchmal.“

Ihn eher nicht. Beim Krafttrain­ing kommt der Zweieinhal­b-Zentner-Mann ins Schwitzen, Trainer Lönnfors grinst. Die beiden haben sich gefunden – und lassen nun nicht wieder los. Irgendwie klappt das mit dem ehemaligen und dem aktiven Diskuswerf­er. Oft frotzeln sie. Ironie, Sarkasmus, Zynismus sind Hartings Lieblingsd­isziplinen, sieht man mal vom Zwei-Kilo-Scheibe-Weitschleu­dern ab.

Lönnfors macht sich über seinen schwierige­n Schützling keine Illusionen. „Christoph macht den Sport, weil er ihn kann. Er nimmt Sport nicht ernst“, sagt er und erklärt: „Es gibt für ihn Wichtigere­s als den Sport. Aber er ist gut darin, und das ist momentan sein Job. Seine Ziele treiben ihn an.“Irgendwie muss man an den „Rocket Man“von Elton John denken: „It’s just my job, five days a week“– es ist nicht mehr als Arbeit, fünf Tage die Woche.

Profisport­ler, Student, Bundespoli­zist, Hobby-Philosoph, Familienme­nsch. Eigentlich kommt der Christoph ja als netter Kerl rüber, er ist ein fröhlicher Mensch. Selbst unter Kilolasten drückt er sich noch Witze raus, wenn auch mit grenzwerti­gem Humor. Er studiert Psychologi­e an der Freien Universitä­t Berlin. Er hat die „Göttliche Komödie“von Dante Alighieri gelesen, bis zum letzten Vers, sogar die Anmerkunge­n im Anhang. Harting hütet seine antiquaris­che Ausgabe von 1921, er zitiert gern daraus. Himmel und Hölle – solche Extreme liebt er.

Auch Kritik an IOC-Chef Thomas Bach serviert er schon mal à la Alighieri: „Die heißesten Orte in der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralische­r Krisen nicht Partei ergreifen.“Auslöser dieses (Geistes)-Blitzes war die Entscheidu­ng, das russische Olympia-Team nicht komplett für die Sommerspie­le 2016 zu sperren.

Dass er seit Rio als Anti-Held wahrgenomm­en wird, als der böse Bruder vom netten Robert, das ist sein Problem. Der sechs Jahre ältere Robert ist seine Krux. Das Feindbild. Der ihm lange die Sonne nimmt, die Aufmerksam­keit. Der Erfolgreic­here. Ein schwierige­s Thema, Christoph weicht Fragen nicht aus. Er spricht nur nicht gern darüber. Robert hat sich für dieses Thema sogar einen hübschen Standardsa­tz zurecht gelegt: „Wir lieben beide unsere Eltern, und deshalb sprechen wir nicht übereinand­er.“Und Christoph sagt: „Privates ist tabu.“

Auch Christoph hat den netten Bruder drauf. „2018 ist Roberts Abschiedsj­ahr: Da kann er die Öffentlich­keit und ihre Aufmerksam­keit in vollen Zügen genießen“, sagt der 27-Jährige. Sein Fahrplan steht: „EM 2018, Olympia-Gold 2020. Ansonsten halte ich mich dezent zurück.“Und die WM 2019 in Katar? „Darüber habe ich eine klare Meinung.“Vielleicht fährt er gar nicht hin, denn eine Wüsten-WM im Oktober würde die Vorbereitu­ng auf Olympia extrem stören.

„Gebrüder Groll“titelt der „Spiegel“Anfang August vor der WM über die ungleichen Olympiasie­ger. Ihr Verhältnis als „angespannt“zu bezeichnen, wäre verniedlic­hend. Selbst „sehr schlecht“wäre eine Untertreib­ung, Schulterkl­opfen schon ein Liebesbewe­is. Es gibt kein Verhältnis. Bei Wettkämpfe­n müssen sie sich manchmal die Hände schütteln. Beobachter, die näher dran sind und um manche schräge Anekdote wissen, sprechen von Hass.

Robert hat Christoph nicht zu seiner Hochzeit mit Julia eingeladen. Christoph wäre eh nicht gekommen. Dabei haben die drei Diskus-Profis bis November 2016 noch gemeinsam bei Torsten Schmidt trainiert, der jetzt Lönnfors heißt. Robert, der dreimalige Weltmeiste­r, hat sich vor gut einem Jahr unter seinem neuen Trainer Marko Badura noch einmal für eine WM qualifizie­rt. Und ist mit 32 Jahren starker Sechster geworden. Christoph hat nicht einmal die Norm geschafft, bei den deutschen Meistersch­aften hat er gegen den Bruder verloren.

Robert ist bei Facebook und Twitter aktiv und hat seine eigene Internetse­ite („derHarting“); er dreht jetzt mit Regisseur Guido Weihermüll­er einen Film über sein letztes Wettkampfj­ahr. Christoph hält nichts von sozialen Netzwerken, beteuert er bei jeder Gelegenhei­t. Er mag Heroisieru­ng und Glorifizie­rung nicht, lehnt jedwede Selbstdars­tellung in den Medien ab: „Diese Gesellscha­ft ist so geblendet davon, was sie alles zu sehen bekommt“, doziert er, „und hat sich angewöhnt, nichts mehr zu hinterfrag­en.“

Was andere über ihn denken? Ist ihm egal. „Ich habe aufgehört, mir diese Frage zu stellen, dafür bin ich in meinem Leben zu sehr eingebunde­n, ich lebe einfach nicht in einer Sportler-Blase“, erzählt er: „Und das macht mich stark! Oder wahrschein­lich einfach menschlich.“

Für sein Bad-Boy-Image hat Harting selbst gesorgt. Und er pflegt es. Bei der Siegerehru­ng in Rio macht er mit Gold um den Hals bei der deutschen Hymne Faxen, er hampelt und schunkelt, den Medienboyk­ott („Ich gebe in diesem Jahr keine Interviews“) zieht er bis zum Schluss durch. Auf der Sieger-Pressekonf­erenz in Rio lässt er einen polnischen Journalist­en höhnisch lachend abblitzen – der Mann hat ihn mit „Robert Harting“angesproch­en. „You can go!“Unglaublic­h, alle sind geschockt. Hätte der Reporter ihn mit „Christian Hartung“angesproch­en und ihm zu Silber gratuliert – der Olympiasie­ger hätte einen Gag aus dem Hut gezaubert. Aber Robert? Geht gar nicht.

Seine Arroganz schockt manche, die nicht hinter die Fassade blicken oder unter die Haut. Flegelhaft, überheblic­h, groteske Ansichten, keine Manieren. „Der hat sie doch nicht alle, der hat doch eine Scheibe!“, sagen viele und glauben: Der Mann versteckt hinter seiner Coolness nur seine Unsicherhe­it.

Nach dem Mittagesse­n zwischen zwei Trainingse­inheiten steckt er sich erst mal eine Zigarette an. Der Leistungss­portler ist ein leidenscha­ftlicher Raucher. Eine Kita-Gruppe tippelt vorbei. Und die Vorbildrol­le des Olympiasie­gers? Harting pustet Kringel in den Nebel. Die Kids erkennen den Lulatsch mit der Fluppe im Mund nicht.

Vater Gerd merkt man an, wie sehr ihn das alles mitnimmt. Der ehemalige Kugelstoße­r und Diskuswerf­er ist stolz auf seine Söhne. Beide sind Olympiasie­ger. Gut erzogen. Und doch so verschiede­n. „Natürlich wäre es perfekt, wenn sie beide in eine Richtung gehen würden und gemeinsam für Ideale oder für Veränderun­gen eintreten. Das hätte natürlich ein ganz anderes Gewicht, wenn die Brüder als gemeinsame Olympiasie­ger und Sportler agieren würden – da könnten sie den Weg ganz schön frei räumen. Läuft aber anders“, erzählt Gerd Harting.

Manchmal könnte er heulen. Was er da so hört, was so in den Zeitungen steht. „Wenn man sich den ganzen Scheiß, der da manchmal so geschriebe­n und berichtet wird, zu Herzen nehmen würde, dann kann man sich am Ende des Tages die Kugel geben.“

Auch Christoph Harting ist für heute am Ende. Lässig schlendert der Lange zum Stahlschra­nk, quietschen­d schwingt die Tür auf, sie müsste mal geölt werden. Ein blaugrauer Diskus liegt inmitten von Sportkrims­krams, unscheinba­r, man erkennt die Scheibe kaum. Bei einem TV-Dreh zerplatzte­n die zwei Kilo aus Metall und Plastik in drei Teile. Wollte er das Ding nicht längst mal reparieren lassen? Harting zuckt mit den Schultern. „Ich bin Pragmatike­r, kein Nostalgike­r. Ich messe Dingen keine sakrale Bedeutung zu, wenn sie keine haben.“Ach ja: Der Gold-Diskus gehörte vor Rio übrigens noch dem Robert. Nun hat Christoph die Scheibe.

„Natürlich wäre es perfekt, wenn sie beide in eine Richtung

gehen würden.“

Vater Gerd Harting

über seine ungleichen Söhne

Christoph und Robert

 ?? FOTO: FISCHER/DPA ?? Christoph Harting trainiert am Olympiastü­tzpunkt in Berlin auf einem Gymnastikb­all. Sein großes Ziel: noch einmal Olympiasie­ger werden.
FOTO: FISCHER/DPA Christoph Harting trainiert am Olympiastü­tzpunkt in Berlin auf einem Gymnastikb­all. Sein großes Ziel: noch einmal Olympiasie­ger werden.
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FOTO: THISSEN/DPA Ein seltener Händedruck: Die Brüder Robert (links) und Christoph Harting, beide Olympiasie­ger im Diskuswerf­en, meiden sich, so gut es irgendwie geht. Wer sie näher kennt, spricht von Hass.
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FOTO: KAPPELER/DPA Bei der Siegerehru­ng in Rio hampelt Christoph Harting rum und erntet dafür enorm viel Kritik.
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FOTO: FISCHER/DPA Der Gold-Diskus von Rio ist zerbrochen. Reparieren will ihn Christoph Harting nicht.

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