Saarbruecker Zeitung

Wenn die Schule ein Ort der Angst ist

Wie der Landkreis Saarlouis Schüler mit extremer Schulangst nach Jahren wieder an den Unterricht heranführt.

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Krankheit länger im Beruf ausfallen, gibt es für sie eine stufenweis­e Wiedereing­liederung mit zunächst reduzierte­r Stundenzah­l“, sagt sie, „Kinder, die zum Teil in stationäre­n Einrichtun­gen waren, sollen aber von heute auf morgen wieder im Schulsyste­m funktionie­ren – wie soll das funktionie­ren?“

Etwa zehn Prozent der Kinder und Jugendlich­en weisen Angststöru­ngen auf (siehe Info). Die Ursachen dafür sind laut Waltner vielfältig: Schicksals­schläge in der Familie, Trennungsä­ngste, einseitige­s Erziehungs­verhalten – also zu streng oder zu nachsichti­g –, Leistungsd­ruck sowie Mobbing. Der Psychologe beobachtet zudem einen Trend zur Vereinzelu­ng. Familien, vor allem Alleinerzi­ehende, seien vermehrt überforder­t. Oft entwickelt­en die Kinder depressive Züge oder einen krankhafte­n Computer-Konsum. Es gehe bei dem Projekt nicht um Schulschwä­nzer, betont Waltner. Die Kinder, die nach Saarlouis kommen, hätten reale Ängste.

Der Raum an der Anne-Frank-Schule wirkt gemütliche­r als normale Klassenzim­mer: Zwei Tischgrupp­en, eine Sofaecke, Musikinstr­umente, an den Wänden selbst gemalte Bilder und ein Adventskal­ender aus bemalten Papiertüte­n. Drei Mal in der Woche kommen sechs Jugendlich­e, je zur Hälfte Jungen und Mädchen, im Alter von 12 bis 15 Jahren hierher. Sie alle waren schon in ambulanter oder stationäre­r Behandlung. Viele kommen mit dem Taxi, eine Fahrt mit dem Schulbus ist wegen ihrer sozialen Ängste noch nicht denkbar. „Diese Schüler haben zum Teil jahrelang keine Schule mehr besucht. Dass sie überhaupt über Wochen regelmäßig an drei Tagen kommen, ist schon ein erster großer Erfolg“, sagt Schulleite­rin Sabine Speicher. In einem Fall habe sich der Schüler nicht getraut, das Auto zu verlassen und die Schule zu betreten. „Dann haben wir ihn kurzerhand im Auto unterricht­et“, sagt sie. Der Schüler betrete inzwischen das Klassenzim­mer.

Um 8.30 Uhr beginnt der Tag mit Musik- und Bewegungst­herapie oder Kreativang­eboten. Langsam sollen sie so auf den Unterricht vorbereite­t werden. „Zur Entspannun­g legen oder setzen sich die Schüler gerne in diese Klangwiege“, sagt Waltner und zeigt auf ein hohes Instrument, das aussieht wie ein halber, ausgehöhlt­er Baumstamm. Daran befestigte Saiten bringen die Wiege zum Klingen. Um 10 Uhr beginnt der Unterricht, jeweils nur drei Stunden am Tag in Mathematik, Deutsch und einer Fremdsprac­he. Für die Nebenfäche­r fehlt oft die Zeit. Es sei ein großer Vorteil, dass das Rehazentru­m an der Förderschu­le angedockt ist, sagt Schulleite­rin Speicher. Die sechs Jugendlich­en würden in die Schulgemei­nschaft integriert. „Sie nehmen teil an unseren Festen und teilweise machen sie auch den Hundeführe­rschein mit unserem Schulhund.“

In der Pause eben mal schnell was beim Kiosk kaufen oder eine Runde Tischtenni­s auf dem Hof spielen, ist für die Jugendlich­en am Anfang undenkbar. Diese alltäglich­en Situatione­n können sie hier mit den Pädagogen üben. Unterricht­et werden sie von Förderlehr­ern der Schule – bezahlt werden die Lehrerstun­den vom Ministeriu­m aus dem Budget für Heim- und Krankenhau­sunterrich­t.

Als Förderzent­rum für Inklusion ist die Anne-Frank-Schule mit allen Schulen im Landkreis vernetzt und koordinier­t den Einsatz der Förderlehr­er an den Regelschul­en. Ein Vorteil: Wenn Schüler aus dem Rehazentru­m zurück an ihre alte Schule wechseln, helfen ihnen Förderlehr­er und Sozialpäda­gogen, die sie bereits kennen.

Sozialpäda­gogen, Therapeute­n, Schulpsych­ologen, Lehrer – sie alle treffen sich einmal in der Woche, um über die bestmöglic­he Betreuung jedes Schülers zu sprechen. Dabei verzeichne­n sie erste Erfolge:Zwei Schüler konnten in ihre frühere Schule zurück, einer schaffte den qualifizie­rten Hauptschul­abschluss und besucht nun eine Berufsschu­le. Während einer nur wenige Wochen im Rehazentru­m blieb, waren es beim anderen mehrere Monate. Für einen weiteren Schüler, der bereits zurück in der Regelschul­e war, kam der Wechsel zu früh. Er besucht nun wieder das Rehazentru­m. Die Warteliste für einen Platz ist lang. „Die Rückschulu­ng ist ein langfristi­ger Prozess“, sagt der Saarlouise­r Landrat Patrik Lauer (SPD), „es ist ein Ausdruck von Gerechtigk­eit, junge Menschen zu begleiten und ihnen die Chance zu geben, aus ihrem Leben etwas zu machen. Die Weichen, die hier gestellt werden, braucht man in zehn Jahren nicht zu reparieren.“ Eine repräsenta­tive Studie des Kinder- und Jugendsurv­eys bescheinig­t 21,9 Prozent der Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d psychische Auffälligk­eiten. Als häufigste Merkmale werden dabei Ängste (zehn Prozent), Störungen des Sozialverh­altens (7,6 Prozent) und Depression­en (5,4 Prozent) genannt.

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FOTO: RUPPENTHAL Damit sich die Schülerin, die extreme Schulangst hat, entspannt, zupft der Psychologe Roland Waltner an den Saiten der Klangwiege.
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Schulleite­rin Sabine Speicher

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