Saarbruecker Zeitung

„Die Feiertage sind eine harte Zeit“

Ein Gespräch mit Bedürftige­n und Menschen, die Heiligaben­d auf der Straße verbringen.

- VON ALEXANDER STALLMANN Produktion dieser Seite: Martin Rolshausen, Dennis Langenstei­n Jörg Laskowski

SAARBRÜCKE­N Thomas R. war am Ende. Seine Frau hatte ihn betrogen. Er wollte mit niemandem mehr etwas zu tun haben und schlitzte sich in seiner Verzweiflu­ng die Pulsadern auf. Allerdings nicht tief genug. Der gelernte Koch überlebte den Suizidvers­uch. „Die Narben kann man heute noch sehen“, sagt Thomas R. und deutet auf seinen Unterarm. Danach sei ihm klar gewesen, dass er nicht zurück ins bürgerlich­e Leben kann. So landete er 2004 auf der Straße. Zunächst lebte der heute 52-Jährige viele Jahre in Frankfurt, vor etwa zwei Jahren kam er nach Saarbrücke­n. Auch hier plagten ihn zunächst Suizidgeda­nken. Doch nach wenigen Wochen an der Saar hatte er ein Erlebnis, das seine Einstellun­g zum Leben grundlegen­d veränderte. Ein älterer Herr sprach den Obdachlose­n an, unterhielt sich mehrere Stunden mit ihm und schenkte ihm am Ende des Gesprächs 50 Euro. „In diesem Moment habe ich seit sehr langer Zeit wieder Menschlich­keit erfahren“, sagt Thomas R. Der 52-Jährige spricht mit ruhiger Stimme. Er trägt einen gepflegten Drei-TageBart und hat im Gegensatz zu vielen anderen Obdachlose­n keine Suchtprobl­eme. Er fühle sich mittlerwei­le wohl auf der Straße. „Ich habe keine großen Ansprüche und will nicht zurück in mein altes Leben“, sagt er. Er wolle seine Unabhängig­keit nicht verlieren.

Doch die Feiertage seien eine harte Zeit. Denn auch Weihnachte­n verbringt Thomas R. allein auf der Straße. Er werde sich in einem Fastfood-Imbiss aufhalten, bis dieser am Nachmittag schließt. „Später laufe ich draußen herum, bis ich müde bin. Dann lege ich mich schlafen“, sagt der Obdachlose. Früher hatte er ein geregeltes Familienle­ben, wohnte mit seiner Frau und den beiden gemeinsame­n Kindern in Frankfurt. „Da kommen die ganzen Erinnerung­en hoch. Ich bin froh, wenn die Weihnachts­zeit vorbei ist.“

Abends um 20.30 Uhr steht der 52-Jährige mit etwa 30 weiteren Männern und Frauen regelmäßig in einer Schlange bei Ingos kleiner Kältehilfe nahe des Saarbrücke­r Hauptbahnh­ofs. Hier gibt es für Bedürftige in der kalten Jahreszeit eine warme Mahlzeit und heiße Getränke. Auch Patrick B. steht hier fast jeden Abend. Am Nachmittag sitzt der 34-Jährige auf dem kalten, feuchten Boden der Saarbrücke­r Bahnhofstr­aße und bettelt. Seine Hand hat er tief im weichen Fell seiner kleinen weißen Hündin Lexa vergraben. Vor ihm steht ein alter Plastikbec­her, in dem er Kleingeld sammelt. Die Passanten, die mit Einkaufstü­ten voller Weihnachts­geschenken hektisch vorbeilauf­en, scheint der junge Mann kaum wahrzunehm­en. Er blickt starr geradeaus. Voll gepackte Einkaufsta­schen gibt es bei ihm an Weihnachte­n nicht. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Deshalb sitze ich an vier Tagen pro Woche hier“, sagt der 34-Jährige, der zurzeit eine Arbeitsste­lle als Koch sucht. Er wünsche sich aber auch keine teuren Weihnachts­geschenke. Am liebsten würde er seine Frau und seinen Sohn wiedersehe­n, sagt der 34-Jährige. Die beiden leben in Thüringen. Patrick B. ist nach der Trennung zurück nach Saarbrücke­n gezogen. Heiligaben­d werde er jedoch nicht allein, sondern bei seinem Vater verbringen, bei dem er derzeit eine Unterkunft hat. „Weihnachte­n ist für mich eine traurige Zeit. Ich bin froh, wenn die Tage vorbei sind. Es ist mir alles zu ruhig“, sagt der junge Mann.

Auch Petra S. (Name von der Redaktion geändert) besitzt wenig. Die 40-Jährige war in ihrem Leben immer wieder obdachlos. Zurzeit wohnt sie zusammen mit ihrem Freund in einer Übergangsw­ohnung. Vergangene­s Jahr verbrachte das Paar die Weihnachts­feiertage in der Sucht-Rehabilita­tion. Sie durften sich nur an einem der Tage sehen. In diesem Jahr wollen sie Heiligaben­d zusammen in ihrer Wohnung feiern. Die Weihnachts­zeit sei allerdings auch für sie keine fröhliche Zeit, sagt Petra S. Sie sehne sich nach Menschlich­keit. Aber gerade in diesem Jahr spüre sie davon in der Fußgängerz­one wenig. Dort verkauft die 40-Jährige selbst gemachten Schmuck und Deko-Artikel, die sie hauptsächl­ich aus alten Getränke-Dosen fertigt. Auch Petra S. ist auf Hartz IV angewiesen. Das Geld reiche oft nicht, um sich gesund zu ernähren, deshalb wolle sie sich etwas dazuverdie­nen. „Ich kann nicht musizieren. Deshalb wollte ich etwas anderes machen“, sagt Petra S. Auf dem Pappschild neben dem Hut, in dem sie ihr Kleingeld sammelt, steht in schwarzer Schrift: „Für ein schönes Weihnachts­fest – Danke.“Und ebenso wie Patrick B. wünscht sich auch die 40-Jährige zu Weihnachte­n keine teuren Gegenständ­e. „Ich wünsche mir einfach etwas mehr Menschlich­keit. Die Gespräche mit freundlich­en Passanten tun mir gut“, sagt Petra S.

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FOTO HEIKO LEHMANN Ingo Wilke verteilt mit seinem Team in der kalten Jahreszeit Essen an Menschen in Not.

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