„Fairness war immer meine Richtschnur“
Der Klartext-Altkanzler spricht über Freund Putin, „Unsinns“-Ideen der SPD, Intimfeind Lafontaine und das Sonnendeck der Demokratie.
DÜSSELDORF
Auch ein Altkanzler stellt sich zu Weihnachten an den Herd. Dabei plant Gerhard Schröder am zweiten Feiertag mit den beiden Kindern ein recht schlichtes Menü: Bratkartoffeln mit Spiegelei, sagt der 73-Jährige im Interview. Weniger beschaulich geht der Russland-Fan mit den Genossen in Deutschland ins Gericht, also mit seiner SPD und den Linken, mit denen „kein Staat“zu machen sei. Im Kern geht es um gute Arbeit. Nur wessen?
Was ist Ihr innerer Kompass im Leben?
SCHRÖDER
Fairness. Fairness gegenüber Menschen, mit denen ich arbeite, aber auch Fairness gegenüber dem politischen Gegner. Fairness war immer meine Richtschnur.
Das haben Sie nicht immer durchgehalten.
SCHRÖDER
Nein, manchmal schafft man das in der Politik nicht, aber wenn ich jemanden verletzt habe, habe ich das nie absichtlich getan. Ich weiß ja, wie es ist, ausgegrenzt zu werden.
Weil Sie als kleiner Junge aus armen Verhältnissen von anderen Kindern gemieden wurden?
SCHRÖDER
Wir haben erfahren, dass man mit Schmuddelkindern nicht spielt, ja. Verstehen Sie mich aber nicht falsch. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Meine Mutter hat uns liebevoll, aufopferungsvoll erzogen. Wir sind nie geschlagen worden. Wir hatten unsere Freiheiten. Wir mussten uns um uns selbst kümmern, wir durften das aber auch.
Sie hatten keinen Vater.
SCHRÖDER
Nein. Ich habe ihn nicht gekannt, deswegen konnte ich ihn auch nicht vermissen. Den Respekt von anderen haben wir uns übrigens auf dem Fußballplatz geholt. Da war ich gut.
Sie rüttelten am Zaun der Herkunft und später am Zaun der Macht. Hat das eine mit dem anderen zu tun?
SCHRÖDER
Ja, wahrscheinlich. Der Drang, es besser zu haben, nach vorne zu kommen, ist bei mir tief verankert. Ich wollte raus aus den beengten Verhältnissen. Was einen später antreibt, wenn man nach oben kommt, sind dann auch Verlustängste.
Das erklärt Ihren Auftritt 2005 im Fernsehen, als sie die Bundestagswahl verloren hatten.
SCHRÖDER
Ach nein, ich wusste schon, dass ich nicht Bundeskanzler bleiben würde. Das war eine kleine Provokation.
Sie wollten nochmal den Rabauken geben?
SCHRÖDER
Na, ja, wir hatten als SPD im Wahlkampf grandios aufgeholt. Aber da saßen mir in der Berliner Runde diese beiden Journalisten so selbstherrlich gegenüber, das hat mich geärgert. Trotzdem: Fairness war mir immer wichtig. Otto Schily hat neulich in einer TV-Dokumentation von der ersten Kabinettssitzung 1998 berichtet. Da haben alle eine bedeutungsschwere Rede von mir erwartet, aber ich habe nur gesagt: Behandelt eure Fahrer und eure persönlichen Referenten gut. Ich habe oft bei Terminen den Wagen 50 Meter vorher anhalten lassen, und bin zu Fuß zur Veranstaltung gegangen. Mein Motto war: Wir fahren nicht vor, wir kommen an.
Dazu passten Ihre Brioni- und Zigarren-Auftritte aber nicht.
SCHRÖDER
Ja, das stimmt. Wie gesagt, die Lust an der Provokation konnte ich nie ganz unterdrücken. Und Brioni macht doch tolle Anzüge. Einen habe ich sogar noch. Mit dem Rauchen habe ich aber aufgehört.
Wie? Keine Zigarre mehr bei den Skatrunden mit Otto Schily und Jürgen Großmann?
SCHRÖDER
Nein, und ich weiß gar nicht, wann und warum ich aufgehört habe. Es ist einfach passiert.
Zurück zur Politik. Max Weber hat drei Kriterien für den idealen Politiker definiert: Leidenschaft, Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein. Was davon haben Sie am wenigsten?
SCHRÖDER
(lacht) Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Wahrscheinlich Augenmaß. Manchmal bin ich über das Ziel hinausgeschossen.
Weil Ihr Instinkt stärker ist als die Vernunft?
SCHRÖDER
Das muss kein Gegensatz sein. Wissen Sie, Politik ist Kommunikation. Die Menschen müssen spüren, dass Sie es wollen. Leidenschaft ist deshalb wichtiger als Augenmaß. Mein Nein zum Irak-Krieg oder das Eintreten für die Agenda 2010 waren aus meiner Sicht inhaltlich geboten, es war vernünftig. Aber es war auch instinktiv richtig. Ich war davon überzeugt.
Wie wichtig ist Ihnen Geld?
SCHRÖDER
Auch nicht wichtiger als anderen Menschen. Es schafft Unabhängigkeit.
Sie hätten den Rosneft-Job also auch ehrenamtlich gemacht?
SCHRÖDER
Sicher. Das ist eine spannende Aufgabe.
Wahre Politik kann keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, hat Immanuel Kant gesagt. Ist Ihr Engagement für einen russischen Ölkonzern, der von der EU sanktioniert wird und der ein autoritäres System unterstützt, nicht moralisch verwerflich?
SCHRÖDER
Ach wissen Sie: Wenn ich im Aufsichtsrat eines amerikanischen statt eines russischen Unternehmens sitzen würde, dann würden alle sagen: toll. Da steckt in der Kritik auch ein bisschen Heuchelei.
Sie hätten vielleicht auch Unicef-Botschafter oder Herausgeber der „Zeit“werden können.
SCHRÖDER
Ich will aber weder das eine, noch das andere machen. Der Aufsichtsratsposten bei Rosneft ist eine große Herausforderung, und die guten Beziehungen zu dem Unternehmen und zu Russland sind zutiefst im Interesse Europas. Es geht um eine sichere Versorgung mit Rohstoffen, die wir für unsere Wirtschaft brauchen. Es geht nicht zuletzt um Arbeitsplätze in Deutschland.
Rosneft wird mit EU-Sanktionen belegt, und ist als halbstaatlicher Konzern für Wladimir Putin ein Machtinstrument.
SCHRÖDER
Ich bin ja gegen diese Sanktionen. Sie werden auch irgendwann aufgelöst.
Sie sind aber als ehemaliger Bundeskanzler nicht privat unterwegs?
SCHRÖDER
Zum einen: Das ist mein Leben. Ich bin ich. Zum anderen: Ich denke, dass mein Engagement für das Gemeinwohl ausreichend belegt ist. Und auch diese Aufgabe, mag sie umstritten sein, wird am Ende den Interessen unseres Landes dienen.
Wladimir Putin ist Ihr privater Freund?
SCHRÖDER
Ja, so ist das. Und das bleibt auch so. Ich vertraue Wladimir Putin.
Wie weit darf Freundschaft gehen? In Russland verschwinden Oppositionelle, die Liste der Menschenrechtsverstöße ist lang.
SCHRÖDER
Freundschaft bedeutet ja, dass man dem Anderen auch seine Meinung sagt und ihn kritisiert. Aber das tut man nicht öffentlich, sondern unter vier Augen.
Sie wissen vielleicht nicht alles über ihn?
SCHRÖDER
Das mag sein. Jeder hat Geheimnisse. Das ist im Menschen so angelegt.
Wenn Sie Putin mit Assad im Fernsehen scherzen sehen, dreht sich Ihnen da nicht der Magen um?
SCHRÖDER
In der internationalen Politik müssen Sie auch mit Diktatoren reden. Wenn wir nur mit demokratisch einwandfreien Politikern verhandeln würden, wären wir ziemlich einsam. Was Syrien betrifft: Es geht um eine politische Lösung. Und auch der Westen hat verstanden, dass es diese nur mit Assad geben kann. Das Ziel bleibt, dass es nach einem Übergang ein geeintes Syrien ohne ihn geben muss.
Ein anderer Herrscher, der uns Sorgen macht, ist der türkische Präsident Erdogan. Sie kamen gut mit ihm klar. Hat er sich verändert?
SCHRÖDER
Der Mann hat Verdienste. Er hat die Türkei wirtschaftlich modernisiert. Das Tragische ist, dass wir nun erhebliche Rückschritte sehen. Ich bedaure das. Aber auch die EU hat die Türkei nicht immer fair behandelt und das Land auf Abstand gehalten.
Deniz Yücel ist seit 300 Tagen in Haft. Bei der Freilassung von Herrn Steudtner haben Sie mitgeholfen. Können Sie Herrn Yücel Hoffnungen machen?
SCHRÖDER
Wie im Fall von Herrn Steudtner rede ich nicht öffentlich über meine Rolle, weil das nicht hilft.
Wie würden Sie Ihre Beziehung zur SPD beschreiben? Unterkühlt, distanziert, man geht sich aus dem Weg?
SCHRÖDER
Ach so.
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
Nein. Herzlich! (lacht)
Im Ernst. Sie müssen mein Verhältnis zur SPD und zu einigen Funktionären unterscheiden. Ich habe gar kein Problem mit SPD-Mitgliedern, ich bekomme viele Einladungen von Ortsvereinen. Es gibt eben ein paar Funktionäre, die arbeiten sich gerne am früheren Kanzler ab, um selbst größer zu wirken.
Sie sind als Redner, Schlichter, Manager gefragt. Aber nicht als Berater in der SPD. Warum nicht?
Komisch, nicht? Aber auch irgendwie verständlich. Als Juso habe ich mich mit Helmut Schmidt gestritten. Jede neue Generation muss sich selbst beweisen. Und das tut sie eben auch in der Auseinandersetzung mit den Alten.
Sie wirken in dem Gespräch fast altersmilde. Jetzt fehlt nur noch, dass Sie sich mit Oskar Lafontaine versöhnen?
Das ist eine schwierige Sache. Ich habe damit selbst weniger Probleme. Aber meine Partei, an der ich sehr hänge, fände das nicht so gut. Hans Jochen Vogel hat mal gesagt, Oskar Lafontaine hat den Parteivorsitz abgegeben wie einen alten Mantel, den man an die Garderobe hängt. Das macht man nicht. Das verzeihen ihm viele SPD-Mitglieder nicht.
Wenn die SPD nicht irgendwann wieder mit den Linken zusammengeht, sind 35 Prozent plus x Ergebnisse vielleicht nicht mehr zu erreichen?
SCHRÖDER
Nein, das glaube ich nicht. Schauen Sie mal, wer sich da in der Linken so tummelt, mit denen kann man nicht vernünftig zusammenarbeiten. Wie heißt der Vorsitzende noch?
Bernd Riexinger.
SCHRÖDER
Ja, genau. Mit denen ist kein Staat zu machen. Die aktuelle Generation der Linken-Politiker ist nicht bereit und in der Lage, mit uns zusammenzugehen.
Also Juniorpartner für immer.
SCHRÖDER
Warum? Das muss nicht so sein. Nach Frau Merkel kommt auch in der CDU nichts mehr. Warten wir es ab, die Parteien entwickeln sich. Die Grünen-Führung auf Bundesebene ist derzeit eher konservativ. Frau Göring-Eckardt und Herr Özdemir sind ja verhinderte CDU-Mitglieder. Da ist wenig zu erwarten. Aber niemand weiß, was nach ihnen kommt.
Zunächst mal will die SPD mit aller Macht demonstrieren, dass sie keine Macht will.
SCHRÖDER
Nach der Bundestagswahl habe ich gedacht, dass man Jamaika machen lassen und die Oppositionsrolle annehmen sollte. Dann ist Jamaika gescheitert…
Was Sie nicht erwartet haben?
SCHRÖDER
Nein, ich wusste, dass die Grünen flexibel sind und unbedingt regieren wollen. Aber, dass die FDP keine Regierungsverantwortung wollte, hat mich überrascht. Dazu muss man sagen: Frau Merkel, die eine respektable Persönlichkeit ist, hat diesen Prozess vor die Wand gefahren. Das war Politikversagen. Sie hatte keine Strategie. Herr Lindner hatte wenigstens eine Strategie. Er wollte nicht das Anhängsel für eine grün gewordene CDU und konservativ gewordene Grüne sein. Das kann ich aus seiner Sicht verstehen.
Wir waren bei der SPD.
SCHRÖDER
Die SPD hat nach dem Aus für Jamaika den Fehler gemacht, mit einem Beschluss die große Koalition immer noch auszuschließen. Sie hätte sagen können, welche inhaltlichen Vorstellungen sie für eine Regierungsbildung hat. Dann muss man reden. Diese Position müssen sie jetzt einnehmen, weil der Bundespräsident die SPD ermahnt hat. Das wirkt natürlich unentschlossen.
Was halten Sie von einer Minderheitsregierung?
SCHRÖDER
Die Welt geht davon nicht unter, in den skandinavischen Ländern ist das Realität. Aber es gibt keine Tradition in Deutschland und unsere Rolle in Europa und in der Welt ist eine andere. Für die SPD würde es bedeuten, sie müsste bei jeder Gesetzesinitiative begründen, warum sie Nein sagt. Sie würden sich selbst einer Zerreißprobe aussetzen.
Deshalb denkt manch einer an die „Koko“, die kooperative Koalition?
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
SCHRÖDER
Was soll das sein?
Helfen Sie mir.
Es ist Unsinn. Ganz oder gar nicht. Und gar nicht geht nicht.
Die SPD will erst mal ihre Mitglieder befragen.
Ich finde eine Mitgliederbefragung generell gut bei zentralen Entscheidungen. Ich bin sicher, dass die Mitglieder sich mit deutlicher Mehrheit für eine große Koalition entscheiden würden.
Wäre eine Mitgliederbefragung auch für den Kanzlerkandidaten 2021 gut?
Warum nicht? Aber das steht ja nicht an. Die SPD muss jetzt zeigen, dass sie eine Strategie hat. Und die Alternativen zu einer großen Koalition sind schlechter. Wir können nicht einfach Neuwahlen anstreben und dem Volk sagen: Sorry, ihr habt leider schlecht gewählt. Versucht es nochmal.
Gibt es ein Szenario, dass die SPD nach einer großen Koalition nicht vom Wähler geschrumpft wird?
Gute Arbeit. Natürlich war die Kanzlerin oft auf dem Sonnendeck, während die Sozialdemokraten im Maschinenraum der Regierung schufteten. Aber es muss nicht zu einem schlechteren Ergebnis führen. Aus der ersten großen Koalition ist Willy Brandt 1969 gestärkt herausgekommen und wurde Kanzler.
Thematisieren die Sozialdemokraten zu viel Gerechtigkeit, zu wenig Fortschritt?
Die SPD muss die Heimat derer sein, die aufsteigen wollen. Und sie muss die Heimat derer werden, die sagen, alles was wir verteilen, muss zuvor erarbeitet werden. Das nennt man ökonomische Kompetenz. Dann schafft die Partei auch wieder ein Ergebnis von mehr als 30 Prozent. Da bin ich mir sicher.
Wie feiern Sie Weihnachten?
Hier in Hannover. Am zweiten Weihnachtstag kommen meine Kinder. Und dann bekoche ich sie.
„Nach Frau Merkel kommt auch in der CDU nichts mehr.“