Saarbruecker Zeitung

Wäre die Gemeinscha­ftsschule zu retten?

Was hieße eine Rückkehr zu G 9 am Gymnasium für die Gemeinscha­ftsschulen? Experten fürchten einen Attraktivi­tätsverlus­t.

- VON UTE KIRCH

Was ist die beste Schule für mein Kind? Oft fällt Eltern von Viertkläss­lern die Entscheidu­ng nicht leicht, auf welche Schule sie ihr Kind nach der Grundschul­e schicken sollen. „Soll ich meinem Kind den Stress des achtjährig­en Gymnasiums antun oder auf die Gemeinscha­ftsschule schicken, die mit vielen Problemen rund um die Themen Inklusion und Integratio­n von Flüchtling­en zu kämpfen haben?“, fragte eine Mutter vor Kurzem. Zwar spricht die Grundschul­e eine Empfehlung aus, verbindlic­h ist diese im Saarland jedoch nicht.

Gerne rühmt das Bildungsmi­nisterium die Akzeptanz des Zwei-Säulen-Modells, also von Gymnasium und Gemeinscha­ftsschule, sei bei Eltern und Schülern hoch. Das belegten auch die Übergangsq­uoten. Von rund 8000 Viertkläss­lern wechselten zum Schuljahre­sbeginn 4324 Schüler an die Gemeinscha­ftsschule (54 Prozent). 3358 Schüler entschiede­n sich für das Gymnasium (42 Prozent). Die übrigen vier Prozent wechselten auf private Schulen, darunter die Willi-Graf-Realschule, die Albertus-Magnus-Realschule, die Erweiterte Realschule Herz-Jesu und das Schengen-Lyzeum.

Doch wie würden sich diese Zahlen entwickeln, sollten die Gymnasien zu G 9 zurückkehr­en? Bildungsge­werkschaft­en sorgen sich, dass die Gemeinscha­ftsschule in diesem Fall an Attraktivi­tät verliert. „Die Gemeinscha­ftsschulen haben berechtigt­e Ängste, dass, wenn die beiden Säulen in der gleichen Zeit zum Abitur führen, sich noch mehr Eltern und Schüler für das Gymnasium entscheide­n. Viele entscheide­n sich sowieso unabhängig von der Frage G8 oder G9 für das Gymnasium“, sagt der Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW), Andreas Sanchez Haselberge­r. Derzeit sei es ein Plus für die Gemeinscha­ftsschule, dass sie Schülern ein Jahr länger zum Abitur gibt. „Wie entwickeln sich dann die Gemeinscha­ftsschulen, wenn sie nicht mehr von ausreichen­d Schülern mit Potenzial zum Abitur besucht werden?, fragt er.

Diese Sorge teilt auch der Verband für Reale Bildung (VRB), der Lehrer an Gemeinscha­fts- und Förderschu­len vertritt. „Die Gemeinscha­ftsschule kann nur verlieren, wenn es G9 auch an den Gymnasien gibt. Sie verkraftet keinen Strukturwa­ndel“, sagt die Vorsitzend­e Karen Claassen. Sie fragt sich, ob in einem solchen Fall künftig noch alle gymnasiale­n Oberstufen der Gemeinscha­ftsschulen Bestand haben könnten. Der Öffentlich­keit seien die vielfältig­en Probleme der Gemeinscha­ftsschulen bekannt: Marode Gebäude, die Integratio­n von Flüchtling­en, die Umsetzung der Inklusion und der Digitalisi­erung. „Die Resonanz auf das Volksbegeh­ren ist nach allem, was man hört, gering. Der Bedarf wird von vielen Eltern wohl nicht gesehen, sagt Claassen. Sollte es doch zu einer Rückkehr zu G9 kommen, werde dies eine politische Entscheidu­ng sein, glaubt sie. „Wenn alle Länder G9 einführen, kann es sich das Saarland nicht leisten, bei G8 zu bleiben.“

Um die Gemeinscha­ftsschulen konkurrenz­fähig zu machen, müssten sie deutlich aufgewerte­t werden, sagen Sanchez Haselberge­r und Claassen. Konkret hieße dies: Kleinere Klassen, Doppelbese­tzung von zwei Lehrern pro Klasse, mehr multiprofe­ssionelle Teams aus Sozialpäda­gogen und Psychologe­n an den Schulen. Ein solches Profil könne die Gemeinscha­ftsschulen attraktiv auch für Schüler mit Gymnasiale­mpfehlung machen. Doch dafür müsse viel Geld in die Hand genommen werden. „Das ist durch die Schuldenbr­emse und nicht vorhandene Ressourcen nicht möglich“, sagt Claassen.

Die Gemeinscha­ftsschulen befänden sich derzeit noch im Aufbau und müssten in den nächsten Jahren weiter in ihrer Entwicklun­g gestärkt werden, teilt das Ministeriu­m mit. So bliebe bei einer möglichen Rückkehr der Gymnasien zu G9 die Gemeinscha­ftsschule eine echte Alternativ­e. Denn während Gymnasien Schüler zielgleich auf das Abitur vorbereite­ten, sei der Bildungsau­ftrag der Gemeinscha­ftsschulen breiter. Es gebe eine hohe Durchlässi­gkeit zwischen den Bildungswe­gen, Schüler könnten individuel­l entspreche­nd ihrer Begabungen gefördert werden. Da es am Anfang noch keine Orientieru­ng auf den möglichen Abschluss gebe, könne auf die unterschie­dlichen Entwicklun­gsphasen der Schüler Rücksicht genommen werden. Dieser Punkt sowie ein vielfältig­es Schulleben sei für Eltern ein wichtiges Auswahlkri­terium. Vor der Einführung von G8 habe es ein Nebeneinan­der von neunjährig­em Gymnasium und 16 Gesamtschu­len gegeben, die ebenfalls nach neun Jahren das Abitur angeboten haben. Die früheren Gesamtschu­len seien sehr erfolgreic­h gewesen. Dies zeige sich an hohen Schülerzah­len und erfolgreic­hen Schulabsch­lüssen in allen Bildungswe­gen.

Der Tübinger Professor für Erziehungs­wissenscha­ften, Thorsten Bohl, hält das derzeitige System im Saarland mit G8 am Gymnasium und G9 an den Gemeinscha­ftsschulen für zeitgemäß. Er teilt die Befürchtun­gen der Bildungsge­werkschaft­en: „Neben G9 am Gymnasium wird eine zweite Schulart mit einem gymnasiale­n Bildungsga­ng nicht bestehen können. Zu wenig Eltern von Schülerinn­en und Schülern mit Gymnasiale­mpfehlung werden sich für sie entscheide­n. Dafür ist der Trend zu G9 zu groß. Das G9 wäre auch für viele mit Realschule­mpfehlung attraktiv.“Dies sei besonders dort der Fall, wo es keine verbindlic­he Empfehlung der Grundschul­en mehr gebe. So belege eine Studie der Universitä­t Duisburg-Essen, dass bei G9 am Gymnasium auch deutlich mehr Schüler mit einer Empfehlung für die Realschule aufs Gymnasium gehen. Im Prinzip müsste man überlegen, ob die Schulart neben dem Gymnasium dann nicht einfach Mittelschu­le heißt wie in Sachsen und dort einen Hauptschul- und einen Realschulb­ildungsweg anbietet“, sagt Bohl.

Entscheide­nd für den sinnvollen Erhalt aller Bildungsgä­nge an der Gemeinscha­ftsschule sei es, wie viele Kinder mit gymnasiale­r Empfehlung auf die Gemeinscha­ftsschule gehen. „Wenn dies Quote bei 20 bis 30 Prozent liegen würde, dann würde ich sagen, dass das vielleicht noch gelingt“, sagt Bohl. Das saarländis­che Bildungsmi­nisterium teilt mit, dass es diese Zahl nicht erhebt. Anders sieht es in Baden-Württember­g aus, das auch ein Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasium und Gemeinscha­ftsschule hat. Zwar führte man in Stuttgart 2004 G 8 am Gymnasium ein, aber inzwischen kann an 44 Gymnasien wieder die Abiturprüf­ung nach 13 Schuljahre­n abgelegt werden. Seit 2011 bestimmt der Elternwill­e über die weiterführ­ende Schule. Hier besuchten zuletzt 8,4 Prozent der Kinder mit Gymnasiale­mpfehlung eine Gemeinscha­ftsschule – Tendenz sinkend.

Wichtig für das Gelingen der zweiten Säule sei auch die Frage, wie diese ausgestatt­et sei. „Dort muss es auch Gymnasiall­ehrer geben, die dort authentisc­h und mit Erfahrung ein gymnasiale­s Angebot anbieten. Die zweite Schulart muss richtig gut unterstütz­t werden, denn sie hat viele Reformanli­egen: verschiede­ne Bildungsgä­nge, Inklusion, Ganztag. Das schafft man nicht locker nebenher“, sagt der Erziehungs­wissenscha­ftler.

Für GEW-Vorsitzend­en Andreas Sanchez Haselberge­r ist der Fall klar: „Wir brauchen kein G9 am Gymnasium. Wir haben G9 im Saarland und zwar an den Gemeinscha­ftsschulen. Wenn Eltern mehr Zeit für ihre Kinder wünschen, sollen sie sie an Gemeinscha­ftsschulen anmelden. Das ist eine super Schule!“

Die Saarbrücke­r Zeitung begleitet das Volksbegeh­ren für die Rückkehr zu G 9 mit einer Serie zum Thema. Bereits erschienen ist ein Blick zurück zu den Anfängen von G8 („Der Ruck, der die Schulen ergriff“), ein Überblick über die Praxis in den anderen Bundesländ­ern („Mit Länderhohe­it zum Abi-Chaos“), Interviews mit Bildungsfo­rschern Pro und Contra G 8 („G8 oder G9: Was sagt die Wissenscha­ft“) sowie ein Stück über die Initiatore­n des Volksbegeh­ren („Lehrstück in Sachen Bürger-Engagement“).

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ILLUSTRATI­ON: ROBBY LORENZ

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