Saarbruecker Zeitung

Das brachte 2017 in Politik, Sport und Gesellscha­ft

Auch wenn es einem heute völlig unwirklich vorkommt, für kurze Zeit gab es diese Möglichkei­t: Bundeskanz­ler Martin Schulz (SPD). Im Saarland begann sein Untergang. Blick zurück auf ein kurioses Jahr deutscher Politik.

- VON THOMAS SCHÄFER

Die Serie, mit der wir in dieser Woche auf das Jahr 2017 zurückgebl­ickt haben, endet heute. Diesmal geht es um Innenpolit­ik und Sport. Und wir würdigen wichtige Personen, die in diesem Jahr verstorben sind.

SAARBRÜCKE­N Wie eng es war, wie viel Angst sie hatten, dass es vorbei sein könnte mit der Macht, konnte man in den Stunden nach 18 Uhr erleben. Auf der Wahlparty der CDU in Saarbrücke­n, auf der Herrentoil­ette. „Der Schulz-Zug ist entgleist! Im Saarland!!“, grölten die von einem fulminante­n Triumph und drei bis sechs Flaschen Homburger Bier aufgedreht­en jungen Männer der Jungen Union. Es war ein Abend voller Euphorie, mit lachenden Gesichtern allüberall. Als Annegret Kramp-Karrenbaue­r, die große Siegerin, später in den Saal kam, wurde es laut wie im Fußballsta­dion, „We are the champions“inklusive.

Und es stimmt ja. Dieser Abend im Saarland, der 26. März 2017, brachte einen in der deutschen Parteienge­schichte beispiello­sen Höhenflieg­er empfindlic­h ins Trudeln. Die „spannendst­e Saarland-Wahl aller Zeiten“(ZDF) sollte sein erster Sieg auf dem Weg ins Kanzleramt werden, doch es wurde ein bitterer Rückschlag für Martin Schulz und die SPD.

Wenige Tage vor der Wahl hatten Umfragen noch eine rot-rote Mehrheit im Land vorausgesa­gt. Doch Anke Rehlinger, die AKK hätte ablösen können und den Schulz-Hype damit weiter befeuern, bekam nicht die Chance, es wirklich zu versuchen mit Lafontaine­s Linken. Das war den Saarländer­n dann doch zu riskant. Hatte sie Schulz am Wochenende davor nach dessen befremdlic­her 100-Prozent-Kür zum SPD-Chef noch einen kräftigen Kuss verpasst, schaute sie nun bedröppelt drein. Es sollte das Gesicht der SPD 2017 werden.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – nie zuvor konnte man innerhalb so kurzer Zeit Zeuge einer solch atemberaub­enden politische­n Achterbahn­fahrt werden. Mit einem Mann im Führerstan­d, der all das noch gewaltiger am eigenen Leib erfuhr und so zur tragischst­en Figur der belämmerte­n Genossen wurde. „Die Leute finden mich peinlich“, lautete Schulz’ Selbsteins­chätzung kurz vor der Bundestags­wahl Ende September, als er auf den Marktplätz­en immer noch verkündete, Kanzler werden zu wollen, aber alle wussten – niemals. Wie sehr der tiefe Absturz an Schulz nagte, hat der „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirc­hen in seiner grandiosen Reportage „Mannomanno­mann“aufgeschri­eben, für die er den Kanzlerkan­didaten viele Wochen lang auch bei Treffen mit engsten Mitarbeite­rn begleiten durfte. Der Text, der wie keiner zuvor ebenso dramatisch­e wie ehrliche Einblicke in einen verlorenen Wahlkampf gibt, brachte Feldenkirc­hen völlig zu Recht den Titel „Journalist des Jahres“ein.

Dass es aber diese Möglichkei­t gab, Bundeskanz­ler Schulz, wenn auch nur für wenige Tage, lag zuallerers­t am Überraschu­ngseffekt. Den Ex-Buchhändle­r, Ex-Alkoholike­r, Halb-Saarländer hatte kaum jemand ernsthaft auf dem Zettel, alles sprach diesmal für Sigmar Gabriel als Merkel-Herausford­erer. Ein Großteil der anfänglich­en Euphorie war daher sicher Ausdruck der großen Erleichter­ung in der SPD, dass nicht der hoch umstritten­e Gabriel antritt als Kanzlerkan­didat, sondern irgendein Meyer oder Schulz. Es wurde Schulz. Und die SPD – und die dankbaren Medien – machten aus ihm einen Superstar, den Erlöser, den Gottvater der Gerechtigk­eit, den Würselen-Obama, die echte Alternativ­e für Deutschlan­d. „Die SPD im Zauberbann des Martin Schulz“, titelte unsere Zeitung nach dem 100-Prozent-Parteitag. Der abgelöste Gabriel sprach vom „fröhlichst­en und optimistis­chsten Wechsel, den die Partei je erlebt hat“.

Bloß: Von nun an konnte es nur noch bergab gehen, und schon eine Woche später beim ersten Realitätst­est an der Saar war der „Schulz-Effekt“wieder weg, die SPD büßte sogar Prozente ein. Von einem 0:1-Rückstand sprach der volksnahe Fußballfre­und Schulz danach, die SPD-Mannschaft müsse nun „zusammenrü­cken und kämpfen“. Doch es sollten weitere Gegentore folgen, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wurden die Genossen abgewählt, am Ende des Jahres stand es 1:4 im Duell mit Merkels CDU. Dazu das schlechtes­te Ergebnis im Bund seit Kriegsende.

Doch anders als im Fußball, wo kaum ein Trainer eine solche Pleitenser­ie überstande­n hätte, darf Schulz weitermach­en. Und die Seinen bleiben in Berlin sogar an der Macht – sollte es nicht nochmals eine Überraschu­ng geben, wie beim Brexit, wie bei Trump, wie bei Christian Lindner.

Dass im November ausgerechn­et der FDP-Chef den längsten Flirt der deutschen Polit-Geschichte krachend beendete, führte nicht nur zu einer kleinen Staatskris­e, sondern auch zu interessan­ten Wortschöpf­ungen. Die Gesellscha­ft für deutsche Sprache kürte „Jamaika-Aus“bereits wenige Wochen später zum Wort des Jahres. Daneben bereichert seither der Spottbegri­ff „lindnern“so manche Konversati­on – eben eine Verabredun­g in letzter Sekunde platzen lassen.

Sogar der Trierer Bischof Stephan Ackermann bedauerte später, dass keine Koalition von Union, Grünen und FDP zustande gekommen ist. Er hätte es interessan­t gefunden, das „Ökologisch-Soziale mit der ökonomisch­en Kompetenz zu verbinden“. Aber eine Liebesheir­at wäre es nie geworden, das war eigentlich schon vor den quälend langen Sondierung­en sichtbar. Es hätte höchstens für eine Regierungs-WG gereicht: Alles ist gut, wenn keiner zu sehr nervt, wenn alle das dreckige Geschirr wegräumen und niemand das Joghurt von Angela aus dem Kühlschran­k klaut. Die WG-erfahrenen Grünen hätten das trotz aller Gegensätze in der Flüchtling­sfrage wohl mitgemacht, Özdemir und Göring-Eckardt wären so gerne Minister geworden.

Doch Lindner hat ganz offensicht­lich einen anderen Plan. Und mit seinen 38 Jahren ist er in der Tat noch jung genug, um irgendwann ein noch viel größeres Amt in Angriff zu nehmen. Kann er sogar Kanzler? Nichts ist unmöglich in der deutschen Politik. Das zumindest hat 2017 sehr eindrucksv­oll bewiesen. Bis auf Weiteres aber bleibt Deutschlan­d Merkel-Land: Gefangen in der Raute – oder, je nach Standpunkt – gut behütet von Mutti.

 ?? FOTOS: DPA(2), MONTAGE: SZ ?? Martin Schulz wollte die Merkel-Raute in die Geschichts­bücher verabschie­den. Doch nach seinem Traumstart kam alles ganz anders. Die Raute bleibt Deutschlan­d höchstwahr­scheinlich erhalten – und die SPD, trotz aller Beteuerung­en, fest in den Fängen der...
FOTOS: DPA(2), MONTAGE: SZ Martin Schulz wollte die Merkel-Raute in die Geschichts­bücher verabschie­den. Doch nach seinem Traumstart kam alles ganz anders. Die Raute bleibt Deutschlan­d höchstwahr­scheinlich erhalten – und die SPD, trotz aller Beteuerung­en, fest in den Fängen der...
 ?? FOTO: KAISER/DPA ?? Markus Söder (hier als König Ludwig II.) ist Bayerns neuer starker Mann.
FOTO: KAISER/DPA Markus Söder (hier als König Ludwig II.) ist Bayerns neuer starker Mann.
 ?? FOTO: BOCKWOLDT/DPA ?? Das Treffen der Mächtigen wurde zum Schauplatz der Gewalt: Während des Hamburger G20-Gipfels flogen nicht nur Fahrhräder.
FOTO: BOCKWOLDT/DPA Das Treffen der Mächtigen wurde zum Schauplatz der Gewalt: Während des Hamburger G20-Gipfels flogen nicht nur Fahrhräder.
 ?? FOTO: KUMM/DPA ?? Am 30. Juni regnet es im Bundestag Konfetti: Besonders die Grünen um Volker Beck (Mitte) hatten viele Jahre lang für die Ehe für alle gekämpft.
FOTO: KUMM/DPA Am 30. Juni regnet es im Bundestag Konfetti: Besonders die Grünen um Volker Beck (Mitte) hatten viele Jahre lang für die Ehe für alle gekämpft.
 ?? FOTO: IMAGO/KERN ?? FDP-Chef Christian Lindner ließ im November die Jamaika-Gespräche mit Union und Grünen platzen.
FOTO: IMAGO/KERN FDP-Chef Christian Lindner ließ im November die Jamaika-Gespräche mit Union und Grünen platzen.
 ?? FOTO: STRATENSCH­ULTE/DPA ?? Alexander Gauland und Alice Weidel führten die AfD als Spitzenkan­didaten in den Bundestag.
FOTO: STRATENSCH­ULTE/DPA Alexander Gauland und Alice Weidel führten die AfD als Spitzenkan­didaten in den Bundestag.

Newspapers in German

Newspapers from Germany