Das brachte 2017 in Politik, Sport und Gesellschaft
Auch wenn es einem heute völlig unwirklich vorkommt, für kurze Zeit gab es diese Möglichkeit: Bundeskanzler Martin Schulz (SPD). Im Saarland begann sein Untergang. Blick zurück auf ein kurioses Jahr deutscher Politik.
Die Serie, mit der wir in dieser Woche auf das Jahr 2017 zurückgeblickt haben, endet heute. Diesmal geht es um Innenpolitik und Sport. Und wir würdigen wichtige Personen, die in diesem Jahr verstorben sind.
SAARBRÜCKEN Wie eng es war, wie viel Angst sie hatten, dass es vorbei sein könnte mit der Macht, konnte man in den Stunden nach 18 Uhr erleben. Auf der Wahlparty der CDU in Saarbrücken, auf der Herrentoilette. „Der Schulz-Zug ist entgleist! Im Saarland!!“, grölten die von einem fulminanten Triumph und drei bis sechs Flaschen Homburger Bier aufgedrehten jungen Männer der Jungen Union. Es war ein Abend voller Euphorie, mit lachenden Gesichtern allüberall. Als Annegret Kramp-Karrenbauer, die große Siegerin, später in den Saal kam, wurde es laut wie im Fußballstadion, „We are the champions“inklusive.
Und es stimmt ja. Dieser Abend im Saarland, der 26. März 2017, brachte einen in der deutschen Parteiengeschichte beispiellosen Höhenflieger empfindlich ins Trudeln. Die „spannendste Saarland-Wahl aller Zeiten“(ZDF) sollte sein erster Sieg auf dem Weg ins Kanzleramt werden, doch es wurde ein bitterer Rückschlag für Martin Schulz und die SPD.
Wenige Tage vor der Wahl hatten Umfragen noch eine rot-rote Mehrheit im Land vorausgesagt. Doch Anke Rehlinger, die AKK hätte ablösen können und den Schulz-Hype damit weiter befeuern, bekam nicht die Chance, es wirklich zu versuchen mit Lafontaines Linken. Das war den Saarländern dann doch zu riskant. Hatte sie Schulz am Wochenende davor nach dessen befremdlicher 100-Prozent-Kür zum SPD-Chef noch einen kräftigen Kuss verpasst, schaute sie nun bedröppelt drein. Es sollte das Gesicht der SPD 2017 werden.
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – nie zuvor konnte man innerhalb so kurzer Zeit Zeuge einer solch atemberaubenden politischen Achterbahnfahrt werden. Mit einem Mann im Führerstand, der all das noch gewaltiger am eigenen Leib erfuhr und so zur tragischsten Figur der belämmerten Genossen wurde. „Die Leute finden mich peinlich“, lautete Schulz’ Selbsteinschätzung kurz vor der Bundestagswahl Ende September, als er auf den Marktplätzen immer noch verkündete, Kanzler werden zu wollen, aber alle wussten – niemals. Wie sehr der tiefe Absturz an Schulz nagte, hat der „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen in seiner grandiosen Reportage „Mannomannomann“aufgeschrieben, für die er den Kanzlerkandidaten viele Wochen lang auch bei Treffen mit engsten Mitarbeitern begleiten durfte. Der Text, der wie keiner zuvor ebenso dramatische wie ehrliche Einblicke in einen verlorenen Wahlkampf gibt, brachte Feldenkirchen völlig zu Recht den Titel „Journalist des Jahres“ein.
Dass es aber diese Möglichkeit gab, Bundeskanzler Schulz, wenn auch nur für wenige Tage, lag zuallererst am Überraschungseffekt. Den Ex-Buchhändler, Ex-Alkoholiker, Halb-Saarländer hatte kaum jemand ernsthaft auf dem Zettel, alles sprach diesmal für Sigmar Gabriel als Merkel-Herausforderer. Ein Großteil der anfänglichen Euphorie war daher sicher Ausdruck der großen Erleichterung in der SPD, dass nicht der hoch umstrittene Gabriel antritt als Kanzlerkandidat, sondern irgendein Meyer oder Schulz. Es wurde Schulz. Und die SPD – und die dankbaren Medien – machten aus ihm einen Superstar, den Erlöser, den Gottvater der Gerechtigkeit, den Würselen-Obama, die echte Alternative für Deutschland. „Die SPD im Zauberbann des Martin Schulz“, titelte unsere Zeitung nach dem 100-Prozent-Parteitag. Der abgelöste Gabriel sprach vom „fröhlichsten und optimistischsten Wechsel, den die Partei je erlebt hat“.
Bloß: Von nun an konnte es nur noch bergab gehen, und schon eine Woche später beim ersten Realitätstest an der Saar war der „Schulz-Effekt“wieder weg, die SPD büßte sogar Prozente ein. Von einem 0:1-Rückstand sprach der volksnahe Fußballfreund Schulz danach, die SPD-Mannschaft müsse nun „zusammenrücken und kämpfen“. Doch es sollten weitere Gegentore folgen, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wurden die Genossen abgewählt, am Ende des Jahres stand es 1:4 im Duell mit Merkels CDU. Dazu das schlechteste Ergebnis im Bund seit Kriegsende.
Doch anders als im Fußball, wo kaum ein Trainer eine solche Pleitenserie überstanden hätte, darf Schulz weitermachen. Und die Seinen bleiben in Berlin sogar an der Macht – sollte es nicht nochmals eine Überraschung geben, wie beim Brexit, wie bei Trump, wie bei Christian Lindner.
Dass im November ausgerechnet der FDP-Chef den längsten Flirt der deutschen Polit-Geschichte krachend beendete, führte nicht nur zu einer kleinen Staatskrise, sondern auch zu interessanten Wortschöpfungen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte „Jamaika-Aus“bereits wenige Wochen später zum Wort des Jahres. Daneben bereichert seither der Spottbegriff „lindnern“so manche Konversation – eben eine Verabredung in letzter Sekunde platzen lassen.
Sogar der Trierer Bischof Stephan Ackermann bedauerte später, dass keine Koalition von Union, Grünen und FDP zustande gekommen ist. Er hätte es interessant gefunden, das „Ökologisch-Soziale mit der ökonomischen Kompetenz zu verbinden“. Aber eine Liebesheirat wäre es nie geworden, das war eigentlich schon vor den quälend langen Sondierungen sichtbar. Es hätte höchstens für eine Regierungs-WG gereicht: Alles ist gut, wenn keiner zu sehr nervt, wenn alle das dreckige Geschirr wegräumen und niemand das Joghurt von Angela aus dem Kühlschrank klaut. Die WG-erfahrenen Grünen hätten das trotz aller Gegensätze in der Flüchtlingsfrage wohl mitgemacht, Özdemir und Göring-Eckardt wären so gerne Minister geworden.
Doch Lindner hat ganz offensichtlich einen anderen Plan. Und mit seinen 38 Jahren ist er in der Tat noch jung genug, um irgendwann ein noch viel größeres Amt in Angriff zu nehmen. Kann er sogar Kanzler? Nichts ist unmöglich in der deutschen Politik. Das zumindest hat 2017 sehr eindrucksvoll bewiesen. Bis auf Weiteres aber bleibt Deutschland Merkel-Land: Gefangen in der Raute – oder, je nach Standpunkt – gut behütet von Mutti.