Löw geht mit offenen Fragen ins WM-Jahr
„Tiefenentspannt“geht Bundestrainer Joachim Löw nicht ins WM-Jahr. Das Ziel ist fixiert, die Voraussetzungen stimmen, die deutschen Fans glauben ans Titel-Double. In den Fokus rückt der Kampf um die Kaderplätze.
Im Fußball beginnt ein WM-Jahr: 2018 will Deutschland in Russland seinen Titel verteidigen. Bundestrainer Joachim Löw hat die Monate bis zum Turnier akribisch geplant. Trotzdem gibt es für den 57-Jährigen noch eine ganze Reihe offener Fragen.
MÜNCHEN
(dpa) Einen Tag hat sich Joachim Löw im Terminkalender 2018 ganz dick angestrichen. Am 15. Juli will der 57-Jährige im Moskauer Luschniki-Stadion mit der Fußball-Nationalmannschaft das vollbringen, was keiner der drei deutschen Weltmeistertrainer vor ihm schaffte: Zweimal Weltmeister werden – und das auch noch nacheinander. Die Voraussetzungen für den historischen Erfolg scheinen gegeben, auch wenn Löw mit einigen Ungewissheiten ins neue Jahr geht.
Wird Kapitän Manuel Neuer fit? Packt es Pechvogel Marco Reus nach seinem Kreuzbandriss? Bleiben Fixkräfte wie Toni Kroos oder Mats Hummels von Verletzungen und Formkrisen verschont? Und setzt sich die rasante Entwicklung von Jungstars wie Timo Werner oder Leroy Sané fort? In die Vorfreude auf die große Sommer-Aufgabe mischt sich bei Löw darum schon Monate vor dem WM-Anpfiff eine gewisse Anspannung. „So tiefenentspannt, wie manche glauben, bin ich nicht“, sagt Löw: „Man diskutiert viel, man arbeitet viel, man denkt vor allen Dingen auch sehr viel nach.“Der Bundestrainer weiß, dass die Wiederholung des Titelgewinns von 2014 in Brasilien eine weitere Dimension darstellt: „Deutschland wird gejagt werden wie nie. Übermenschliche Kräfte müssen sich freisetzen, wenn wir es am Ende schaffen wollen, Weltmeister zu werden.“
Den Weg zum erneuten Triumph hat Löw mit seinem Stab bis auf den letzten Länderspieltest am Ende des WM-Trainingslagers in Südtirol bereits vorgezeichnet. Auch die quälende Quartier-Entscheidung wurde nach der Auslosung der WM-Gruppen, die dem Titelverteidiger Mexiko, Schweden und Südkorea als Vorrundengegner bescherte, getroffen. Der DFB-Tross wird in Watutinki außerhalb der Millionenmetropole Moskau logieren – und nicht im Urlaubsort Sotschi am Schwarzen Meer, den Löw und seine Spieler während des Confed Cups 2017 liebgewonnen hatten. „Wir haben doch auch unsere Vernunft eingeschaltet“, gibt Löw zu. Mehr Ruhe, weniger Reisestress, das gab den Ausschlag für Moskau.
Dort startet das DFB-Team am 17. Juni gegen Mexiko ins Turnier. Im Luschniki-Stadion will Löw exakt vier Wochen später auch das Finale bestreiten. Nur der Titel zählt in Russland. „Um was anderes geht es nicht“, sagt Abwehrspieler Antonio Rüdiger vom FC Chelsea, „aber einfach wird es nicht.“Einfach wird schon die Auswahl der 23 Spieler nicht. „Es werden sicherlich harte Entscheidungen fallen, absolut“, sagt Löw. Selbst namhafte Spieler wie der gerade zum VfB Stuttgart gewechselte Torjäger Mario Gomez müssen um ihr WM-Ticket bangen.
Löw hat in den sechs Länderspielen der WM-Saison 30 Akteure eingesetzt. Einige Topasse wie Torhüter Neuer oder der Dortmunder Angreifer Reus fehlten aus Verletzungsgründen. Löw hofft, dass sie rechtzeitig fit werden und in Form kommen. Gerade Kapitän Neuer brauche man „als Rückhalt und mit seiner Ausstrahlung unbedingt“. Zur Jahreswende gab es immerhin positive Signale des Torwarts, der nach dem dritten Mittelfußbruch am linken Fuß Bilder von ersten vorsichtigen Laufversuchen auf einem Laufband öffentlich machte. Auch der Auersmacher Jonas Hector, der bis zu seiner Verletzung im Sommer 2017 zu Löws Stammspielern gehörte, macht sich WM-Hoffnungen und steigt beim 1. FC Köln heute wieder ins Mannschaftstraining ein.
Löw will sein neues Titelprojekt mit einer Mischung aus erfahrenen 2014er-Weltmeistern und hungrigen WM-Neulingen wie dem Münchner Joshua Kimmich (22), dem Leipziger Angreifer Timo Werner (21), Flügelflitzer Leroy Sané (21) von Manchester City oder dem Noch-Schalker Leon Goretzka (22) angehen. Jeder WM-Kandidat wird vom DFB-Trainerstab intensiv beobachtet. „Es gibt bei mir zuhause so etwas wie ein Spielerprofil: Welche Stärken hat ein Spieler? Welche Schwächen? Wie wollen wir mit unserer Mannschaft spielen?“, verrät Löw. Nach diesen Kriterien wird der Bundestrainer entscheiden.
Freifahrtscheine zur WM gibt es nicht – Stammkräfte schon. „Wir müssen über einen Mats Hummels, Toni Kroos oder andere nicht reden, die zu unserer Achse und zu den Führungsspielern gehören“, sagt Löw. Kroos, Hummels, Mesut Özil, Thomas Müller, Sami Khedira, ein gesunder Neuer und ein fitter Jérôme Boateng sind natürlich gesetzt für Russland.
Die WM-Elf werde sich erst spät herauskristallisieren, sagt Löw: „Das Einspielen beginnt erst im Mai.“Bei seiner dritten WM als Cheftrainer erwartet er „eine sogar noch größere Dichte in der Spitze“. Brasilien, Frankreich, Spanien, England, Argentinien – Löw hat eine Vielzahl an Titelkonkurrenten im Auge. „Nur wir als Weltmeister haben etwas zu verlieren“, sagt er. Die deutschen Fans glauben an Löw und seine Mannschaft. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gaben 51 Prozent der 2032 Befragten zum Start ins WM-Jahr an, in Russland am ehesten der DFB-Auswahl den Turniersieg zuzutrauen.
Erst Ende März kann Löw seine WM-Kandidaten erstmals um sich scharen. In den beiden Heimspielen gegen Spanien (23. März) und Brasilien (27. März) soll dann gleich der Ernstfall getestet werden. Und Löws Ansage an seine Spieler zum Start ins Turnierjahr 2018 fällt deutlich aus: „Wir müssen wieder den immensen Hunger entwickeln, die WM zu gewinnen.“