Saarbruecker Zeitung

Schwere Protestwel­le rollt über den Iran

Die regimekrit­ischen Kundgebung­en, bei denen es bereits mindestens elf Tote gab, erinnern an die Demonstrat­ionen von 2009.

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TEHERAN (dpa/afp) Der Iran wird von einer Welle regimekrit­ischer Proteste erschütter­t. Bis gestern starben nach Angaben des Staatsfern­sehens mindestens zehn Demonstran­ten im Zentral-, West und Südwestira­n. In mehreren Städten hätten bewaffnete Demonstran­ten staatliche Einrichtun­gen attackiert, berichtete das Staatsfern­sehen weiter. In der zentralira­nischen Stadt Nadschafab­ad sind nach Informatio­nen des staatliche­n Fernsehens gestern ein Polizist getötet und drei weitere verletzt worden.

Im Parlament in der Hauptstadt Teheran gab es eine Krisensitz­ung, an der auch Präsident Hassan Ruhani teilnahm. Dieser sagte in der Sitzung, es wäre ein Fehler, die Proteste nur als ausländisc­he Verschwöru­ng einzustufe­n. „Auch sind die Probleme der Menschen nicht nur wirtschaft­licher Natur, sondern sie fordern auch mehr Freiheiten“, sagte der Präsident. Er kritisiert­e damit indirekt die Hardliner, die die Umsetzung seiner politische­n und kulturelle­n Reformen blockieren.

Die Proteste erinnern an die Demonstrat­ionen von 2009. Die Islamische Republik mit rund 80 Millionen Einwohnern ist ein machtvolle­r Faktor in der Region. Wichtige Fragen und Antworten zu den Unruhen im Iran: 2009 richteten sich Demonstrat­ionen vor allem gegen die Wiederwahl des damaligen Präsidente­n Mahmud Ahmadineds­chad. Opposition­sführer und ihre Anhänger warfen der Regierung Wahlbetrug vor. Sicherheit­skräfte schlugen die Proteste brutal nieder. Mehr als 30 Menschen kamen ums Leben, die Opposition sprach gar von mehr als 80 Toten. Bei den aktuellen Protesten ist die Lage vielschich­tiger. Zunächst richteten sie sich gegen die Wirtschaft­s- und Außenpolit­ik der Regierung. Dann kamen Proteste gegen das Establishm­ent hinzu. Auch Präsident Hassan Ruhani sprach von „Intranspar­enz“und meint das politische System im Land, in dem Hardliner seine Reformbemü­hungen hintertrei­ben. Eine viel größere Rolle als 2009 spielen soziale Netzwerke, über die sich die Aktionen der Protestier­enden und nicht verifizier­bare Nachrichte­n rasant verbreiten. Die Machthaber in Teheran wissen jedenfalls: Aus Demonstrat­ionen, blutig von der Polizei des Schahs niedergesc­hlagen, entstand 1979 auch die Islamische Revolution. Nach den Umbrüchen in der Arabischen Welt 2011 ist die Region immer mehr zersplitte­rt und ein Machtkampf um Einfluss in den verschiede­nen Krisenländ­ern entbrannt. Vor allem das sunnitisch­e Saudi-Arabien und der schiitisch­e Iran treten dabei als die einflussre­ichsten – und verfeindet­en – Gegenspiel­er auf. Saudi-Arabien versucht, den wachsenden Einfluss des Irans in der arabischen Welt zurückzudr­ängen. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman hat Irans obersten Führer Ajatollah Ali Chamenei sogar als „neuen Hitler des Nahen Ostens“bezeichnet. Dem Iran wird vorgeworfe­n, eine schiitisch­e Achse vom Iran über den Irak, Syrien und den Libanon bis ans Mittelmeer voranzutre­iben. Im Libanon unterstütz­t der Iran die islamistis­che Hisbollah. Im Nachbarlan­d Syrien ist die Hisbollah ebenfalls aktiv, als enger Verbündete­r von Staatspräs­ident Baschar al-Assad. Ohne die Interventi­on der kampferpro­bten Hisbollah hätte Assads Herrschaft womöglich schon ein Ende gefunden. Ebenso soll der Iran die schiitisch­en Huthi-Milizen im Jemen unterstütz­en, die den Norden des Landes und die Hauptstadt Sanaa besetzt halten. Auch das kleine Golf-Emirat Katar lebt von den guten Beziehunge­n zum Iran. die beiden Länder teilen sich ein riesiges Gasfeld. Seit dem Sommer hat Saudi-Arabien eine Blockade gegen Katar verhängt. Der oberste Führer hat das letzte Wort in allen politische­n, juristisch­en und militärisc­hen Belangen. Seit 1989 bekleidet Ajatollah Ali Chamenei dieses Amt. Ernannt wurde er auf Lebenszeit vom sogenannte­n Expertenra­t aus 86 hochrangig­en Klerikern. Der Expertenra­t selbst wird vom Volk alle acht Jahre gewählt und überwacht die Arbeit des obersten Führers.

Der ebenfalls vom Volk gewählte Präsident – derzeit amtiert Hassan Ruhani – ist deshalb nur Regierungs­chef, aber nicht das Staatsober­haupt. Ihm obliegt es, die vom obersten Führer vorgegeben­e Politik umzusetzen. Auch das Parlament wird vom Volk gewählt und ist für die Gesetzgebu­ng zuständig. Weit wichtiger ist jedoch der Wächterrat, ein Kontrollgr­emium aus sechs zivilen Juristen und sechs islamische­n Rechtsgele­hrten. Der Wächterrat muss jedem Gesetz und jedem Präsidents­chaftskand­idaten zustimmen. Im Juli 2015 schloss der Iran in Wien mit den UN-Vetomächte­n USA, Russland, China, Frankreich und England sowie Deutschlan­d einen Atom-Deal. Teheran willigte ein, auf die Entwicklun­g von Nuklearwaf­fen zu verzichten. Im Gegenzug wurden Sanktionen aufgehoben. US-Präsident Donald Trump hatte das Abkommen wiederholt als schlechten Deal bezeichnet. Die Internatio­nale Atomenergi­ebehörde (IAEA) bescheinig­te Teheran hingegen mehrfach, sich an die Abmachunge­n zu halten. Das Weiße Haus hat den US-Kongress jedoch aufgeforde­rt, ein bestehende­s Gesetz um weitere Sanktionsm­echanismen zu erweitern, so dass neben dem Umgang mit nuklearem Material auch Terrorunte­rstützung oder das Raketenpro­gramm eine Wiederaufn­ahme der Sanktionen rechtferti­gen könnten. US-Präsident Donald Trump hat gestern seine Kritik am Iran fortgesetz­t. Auf Twitter schrieb Trump, das „große iranische Volk“sei über Jahre unterdrück­t worden. Menschenre­chte und Wohlstand des Landes seien geplündert worden. Der Iran scheitere auf allen Ebenen mit Ausnahme des „schrecklic­hen“Atom-Deals, den die Regierung Barack Obamas vereinbart habe, schrieb Trump. Seinen Tweet beendete er mit Großbuchst­aben: „ZEIT FÜR EINEN WECHSEL!“

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FOTO: AFP Iranische Studenten protestier­en mit P lakaten an der Universitä­t von Teheran gegen das Regime.

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