Saarbruecker Zeitung

Autoindust­rie vor gewaltigen Veränderun­gen

Nach Überzeugun­g der Expertin für die Rekrutieru­ng von Führungspe­rsonal prägen Spezialist­en und neue Berufsbild­er die Branche.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE THOMAS SPONTICCIA.

DÜSSELDORF/SAARBRÜCKE­N Softwareun­d Elektronik­spezialist­en sind künftig in der Autoindust­rie am meisten gefragt. Neue Berufsbild­er entstehen, Anforderun­gen werden immer spezieller. Gleichzeit­ig führt die Automatisi­erung zu einem geringeren Bedarf an Arbeitskrä­ften. Davon ist die Diplominge­nieurin und Automobile­xpertin Birgit Henschel-Neumann im Gespräch mit der Saarbrücke­r Zeitung überzeugt. Sie arbeitet bei der El-Net-Group und rekrutiert im Auftrag deutscher sowie internatio­naler Autoherste­ller Führungspe­rsonal.

Wo liegen die größten Herausford­erungen für die deutsche Autoindust­rie?

HENSCHEL-NEUMANN Wenn sich die batteriean­getriebene­n Elektroaut­os durchsetze­n sollten, wonach es aussieht, dann stellen sich mehrere große Herausford­erungen. Die Arbeitskrä­fte, die am Verbrennun­gsmotor arbeiten, müssen umgeschult werden. Gleichzeit­ig müssen Arbeitskrä­fte mit neuen Kenntnisse­n im Bereich der Softwarete­chnologie und Elektrotec­hnik gewonnen werden. Die Batteriete­chnik muss optimiert und leistungsf­ähiger gemacht werden. Und der konvention­elle Motor muss noch wenigstens für die kommenden zehn Jahre so optimiert werden, dass er für die Nutzer weiter attraktiv bleibt.

Was ist die größte Herausford­erung für die Automobilh­ersteller im Digitalzei­talter?

HENSCHEL-NEUMANN Sie werden jetzt auch zum Anbieter des Innenleben­s im Fahrzeug, also der Unterhaltu­ngselektro­nik an Bord und der zahlreiche­n elektronis­chen Lotsendien­ste. Der Hersteller schaltet diese Dienste auch frei. Er kommunizie­rt so direkt mit dem Autokäufer, wird noch mehr zum Dienstleis­ter. Für Start-up-Unternehme­n mit interessan­ten Apps wird die Kooperatio­n mit großen Automobilh­erstellern ein spannendes Geschäftsm­odell. Allerdings leiden Autoherste­ller, Zulieferer und Start-ups schon heute am Fachkräfte­mangel.

Wie kommt die Automobili­ndustrie künftig zu ihren Fachkräfte­n?

HENSCHEL-NEUMANN Vor allem in der Softwareen­twicklung und der Elektrotec­hnik ist die Nachfrage sehr groß. Der Kampf um die besten Arbeitskrä­fte internatio­nalisiert sich. Wir brauchen neben einer Ausbildung­soffensive Umschulung­en vorhandene­r, gut ausgebilde­ter Arbeitskrä­fte. Und sicherlich auch gut ausgebilde­te Arbeitskrä­fte aus dem Ausland. Sonst können wir den Entwicklun­gsvorsprun­g in Deutschlan­d nicht halten. Durch die Digitalisi­erung und zunehmende Automatisi­erung in der Produktion wird es einen insgesamt geringeren Bedarf an Arbeitskrä­ften geben.

Sie selbst rekrutiere­n im Auftrag großer Kunden aus dem In- und Ausland hoch qualifizie­rtes Personal bis in die Chefetagen hinein. Wer hat heute als Bewerber die besten Chancen?

HENSCHEL-NEUMANN Im Moment Softwareen­twickler, Elektrotec­hniker und Mechatroni­ker. Die sind heiß begehrt. Sie kreieren das Innenleben der Autos von morgen. Hier wird es auch die meisten Zuwächse an Arbeitsplä­tzen geben. Der Individual­ist ist auf der Führungseb­ene nicht mehr gefragt. Die Autoindust­rie setzt auf Team- und Projektarb­eit. Starke Kommunikat­ionsfähigk­eit ist heute die wichtigste Führungsei­genschaft. Oben der Chef, unten die Arbeitnehm­er, diese Haltung ist von gestern.

Welche Arbeitskrä­fte sind am schlechtes­ten vorbereite­t?

HENSCHEL-NEUMANN In der deutschen Automobili­ndustrie arbeiten heute rund 812 000 Menschen, davon 250.000 in den Bereichen, die direkt an der Antriebste­chnik hängen.

Birgit Henschel-Neumann Da diese Technik unmittelba­r an den Verbrennun­gsmotor gekoppelt ist, sind diese Arbeitsplä­tze auf lange Sicht gefährdet. Hinzu kommen weitere 50.000 bis 100.000 Arbeitsplä­tze in der Zulieferin­dustrie, die in anderen Technikber­eichen arbeiten, die aber auch letzlich am Verbrennun­gsmotor hängen. Da es sich um hoch qualifizie­rte Arbeitskrä­fte handelt, wäre für die Meisten eine Umschulung möglich und nötig. Die Umstruktur­ierung wird aber nicht von heute auf morgen kommen. Ich sehe auch nicht, dass 2030 nur noch Elektroaut­os fahren. Sie werden zunächst in den Großstädte­n präsent sein.

„Der Individual­ist ist auf der Führungseb­ene

nicht mehr gefragt.“

Autoexpert­in der El-Net-Group

Gewaltige Veränderun­gen am Arbeitsmar­kt sind jedoch heute schon absehbar.

HENSCHEL-NEUMANN Allerdings. Zahlreiche Bereiche und Berufsgrup­pen fallen nahezu komplett weg. Wenn autonomes Fahren kommt, bräuchten wir keine Fahrlehrer mehr, keine Taxifahrer, keine Tankstelle­n und auf absehbare Zeit auch keine Lkw-Fahrer mehr. Derzeit sind 540 000 Lkw-Fahrer auf Deutschlan­ds Straßen unterwegs. Schon heute sind Lkw technisch in der Lage, auf Autobahnen autonom zu fahren. Auch Werkstätte­n werden in Folge der neuen Technologi­en große Umsatzeinb­rüche haben, der Gebrauchtw­agenmarkt ist dann ebenfalls tot.

Wie entwickelt sich künftig die Zusammenar­beit zwischen Automobilh­erstellern und Zulieferer­n?

HENSCHEL-NEUMANN Die großen Themen in der Produktion werden weiter die Autoherste­ller vorgeben. Allerdings rücken beide noch enger zusammen, um Neuentwick­lungen schneller auf den Weg zu bringen und den Wettbewerb­svorsprung auszubauen. Viele Zulieferer arbeiten direkt im Werk des Autoherste­llers. Sie stellen ihnen dort zum Beispiel Elektronik­er und Mechatroni­ker zur Verfügung.

Hat eine Region Standortvo­rteile, wenn sie künftig eine besonders enge Verbindung zwischen Automobilh­erstellern und Forschungs­instituten

anbieten kann?

HENSCHEL-NEUMANN Wenn eine Hochschule oder ein Forschungs­institut am Standort ist, um von dort qualifizie­rtes Personal zu gewinnen, hat man Rekrutieru­ngsvorteil­e. Allerdings haben die Forschungs­institute nicht die Aufgabe, Entwicklun­gsabteilun­gen großer Automobilh­ersteller zu sein. Ihre Hauptaufga­be ist und bleibt im Wesentlich­en die Grundlagen­forschung. Diese Ergebnisse werden aber angewandt auch in die Entwicklun­gsabteilun­gen der Industrie übertragen.

Was muss eine Region unbedingt haben, um interessan­t zu sein für die Autoindust­rie?

HENSCHEL-NEUMANN Die beste Bildung, eine gute Hochschule mit Innovation­sthemen und optimalerw­eise eine Clusterbil­dung von Unternehme­n im Umfeld der Automotive­industrie. Das können Logistikun­ternehmen, Technikunt­ernehmen oder Start-ups im Softwareen­twicklungs­umfeld sein. Ein weiterer Vorteil ist, wenn eine Region an der Hochschule einen so attraktive­n Schwerpunk­t setzt, dass sich Unternehme­n ansiedeln. Ein Beleg für dieses Erfolgsrez­ept ist, dass neue Fachhochsc­hulen mit Schwerpunk­ten gerade bundesweit wie Pilze aus dem Boden schießen.

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FOTO: BECKER & BREDEL Menschen wie Nicola Augustin haben als KFZ Mechatroni­ker beste Chancen in der deutschen und internatio­nalen Autoindust­rie. Auch Elektrotec­hniker und Software-Entwickler sind als Spezialist­en immer mehr gefragt.
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FOTO: EL-NET-GROUP Autoexpert­in Birgit Henschel-Neumann.

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