Saarbruecker Zeitung

Auf der Jagd nach dem Verfall

„Urban Explorer“besuchen verlassene Orte im Saarland und dokumentie­ren den Niedergang. Ihre Fotos zeugen von morbidem Charme.

- VON NORA ERNST

SAARBRÜCKE­N

Ein halb verfallene­s Haus mitten im Nirgendwo, überwucher­t von Sträuchern und Moos. Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört. Im Innern ist alles mit einer dicken Staubschic­ht bedeckt, die Wände feucht und schimmlig. Im Flur ein blauer Mantel, überzogen mit Taubendrec­k, und doch feinsäuber­lich auf einen Bügel gehängt, darunter ein Paar Stiefel, als hätte sie gerade jemand von den Füßen gestreift. Rostige Gemüsekons­erven von Marken, die heute keiner mehr kennt, aufgereiht in der Küche. Die Regale, einstmals liebevoll mit einer Spitzenbor­düre verziert, die sich, heute schmuddeli­g-grau, langsam ablöst, sind schon lange morsch. Im Keller das schlichte Grabkreuz eines Mannes, gestorben am 22. Januar 1960, und man fragt sich unwillkürl­ich, wer er gewesen sein mag und was das Kreuz dort zu suchen hat.

„Das war das Gruseligst­e, was wir je erlebt haben“, sagt Thomas (Name geändert). „Wir waren froh, als wir wieder draußen waren.“Er und seine Frau Nadine (Name ebenfalls geändert) steigen regelmäßig in verlassene Gebäude im Saarland und der Grenzregio­n ein, in „Lost Places“. Leerstehen­de Häuser, Klöster, Fabrikhall­en, an denen der Zahn der Zeit schwer genagt hat – der Verfall in voller Pracht. Betrachtet man die Bilder, die sie von ihren Touren mitbringen, wird schnell klar, was die Faszinatio­n dieses Hobbies ausmacht: Es ist der verbotene Blick in ein längst vergangene­s Leben, manchmal in den intimsten Bereich eines Fremden, dessen Gegenwart fast noch spürbar ist. „Wir wollen, dass die Häuser nicht in Vergessenh­eit geraten, es steckt ja auch immer eine Geschichte dahinter“, sagt Nadine. Und die versuchen sie herauszufi­nden, indem sie beim Stadtarchi­v nachfragen, im Netz forschen oder mit den Anwohnern ins Gespräch kommen.

Das „Urban Exploring“ist ein regelrecht­er Trend geworden. Zehn bis 15 Gruppen gibt es im Saarland, schätzt Thomas. Im März vergangene­n Jahres ging die Facebook-Seite des Paares an den Start: „Lost Place Explorer Saar“. Seitdem haben sie sich eine kleine Fan-Gemeinde aufgebaut: mehr als 2700 Menschen gefällt ihre Seite. Dass das Interesse so groß sein würde, hat sie selbst überrascht. „Besonders gut kommen Orte an, zu denen die Menschen einen Bezug haben, zum Beispiel ein Schwimmbad, das sie aus ihrer Kindheit kennen“, sagt Thomas.

Inzwischen ist ihre Gruppe auf sieben Mitglieder angewachse­n – alles enge Freunde. „Man muss sich auf die anderen verlassen können“, sagt Thomas. Darauf dass sie nicht kurzfristi­g abspringen, aber auch darauf, dass sie den Standort der „Lost Places“nicht ausplauder­n – ein ungeschrie­benes Gesetz in der Szene. Man will nicht, dass immer mehr Menschen in die Häuser einsteigen, sie beschädige­n, Dinge mitgehen lassen. Und wahrschein­lich spielt auch ein bisschen Entdeckers­tolz mit rein. Die Szene ist nicht ganz frei von Konkurrenz­denken. Zwar geben sich befreundet­e Gruppen schon mal Tipps, aber die beiden haben auch schon erlebt, dass andere versuchten, herauszukr­iegen, wo sie als nächstes unterwegs sind, um ihnen die Polizei hinterher zu schicken.

Denn was sie da tun, ist genau genommen illegal. Deshalb wollen sie ihren Namen auch nicht in der Zeitung lesen. Ein schlechtes Gewissen haben sie trotzdem nicht. „Wenn ein Haus seit 20 Jahren leer steht und niemand sich darum kümmert, ist es dann so dramatisch, wenn wir dort einsteigen?“, fragt Thomas. Dramatisch nicht, aber auch nicht ganz ungefährli­ch. Decken können brüchig, Böden morsch sein. Deshalb schicken sie immer zuerst Thomas rein, er arbeitet bei der Freiwillig­en Feuerwehr, kann am ehesten einschätze­n, wie sicher es ist. Nadine hat eine Ersthelfer-Ausbildung, für den Fall der Fälle.

Eine weitere eherne Regel: Alles wird so verlassen, wie es vorgefunde­n wurde. Kein Zaun, keine Tür, kein Fenster wird aufgebroch­en. „Wenn das Gebäude nicht begehbar ist, kehren wir um“, sagt Thomas. Ihre Ziele finden sie zufällig im Vorbeifahr­en oder durch Tipps im Internet. Für Thomas und Nadine ist das „Urban Exploring“eine Art Kunst: „Wir versuchen, nicht die schönen, sondern die dunklen Seiten des Saarlands festzuhalt­en.“

Manchmal bleiben sie in den verfallene­n Bauten einfach stehen und lauschen, auf den Wind, der durch die Ecken pfeift, das Wasser, das von der Decke tropft – oder auf verdächtig­e Geräusche. So wie damals, als sie eine alte Villa erkundeten und plötzlich ein schwarzes Auto vorfuhr: Polizisten in Zivil? Sicherheit­sleute? Sie wussten es nicht, schauten aber, dass sie davon kamen, schlugen sich in die Büsche und rutschten einen matschigen Abhang hinunter. Der Kick, der Nervenkitz­el, macht wohl auch den Reiz ihres ungewöhnli­chen Hobbies aus.

 ?? FOTOS: LOST PLACE EXPLORER SAAR ?? Zeugen einer längst vergangene­n Zeit: In den verlassene­n Häusern lässt sich erahnen, wie die längst verstorben­en Bewohner früher gelebt haben. Die Standorte der „Lost P laces“geben die „Urban Explorer“nicht preis – ein ungeschrie­benes Gesetz der Szene.
FOTOS: LOST PLACE EXPLORER SAAR Zeugen einer längst vergangene­n Zeit: In den verlassene­n Häusern lässt sich erahnen, wie die längst verstorben­en Bewohner früher gelebt haben. Die Standorte der „Lost P laces“geben die „Urban Explorer“nicht preis – ein ungeschrie­benes Gesetz der Szene.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany