Saarbruecker Zeitung

Die Hinrichtun­g dauerte kaum zwei Minuten

In einer brillanten Rede beschrieb Anneliese Knoop-Graf ihren Bruder Willi, als er Saarbrücke­r Ehrenbürge­r wurde. Die SZ zitiert.

-

SAARBRÜCKE­N (fitz) Heute vor 100 Jahren kam Willi Graf zur Welt, der todesmutig­e junge Mann, der sein Eintreten für die Menschlich­keit am 12. Oktober 1943 mit dem Leben bezahlte – als die Nazis ihn unters Fallbeil legten. 250 Tage lang hatten sie ihn in der Todeszelle gemartert. Aber Willi Graf hatte ihnen kein Wort über seine Freunde aus der Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“gesagt.

Seit dem September 2013 heißt das St. Johanner Saarufer offiziell Willi-Graf-Ufer. Seit dem Sonntag, 12. Oktober 2003, seit seinem 60. Todestag, ist Willi Graf Ehrenbürge­r von Saarbrücke­n.

Damals nahm Willi Grafs Schwester, Anneliese Knoop-Graf (sie starb 2009), im Rathaus St. Johann die Ehrenbürge­rurkunde entgegen und hielt eine brillante Gedenkrede. Zum Start des Saarbrücke­r Gedenkjahr­es für Willi Graf veröffentl­icht die SZ hier einige Zitate aus dieser Rede:

DAnneliese Knoop-Graf

as Telegramm an den Volksgeric­htshof in Berlin, das der Oberstaats­anwalt in München am Abend des 12. Oktober 1943 aufgeben ließ, hatte die vorgeschri­ebene Unauffälli­gkeit: „Angelegenh­eit heute ohne Zwischenfa­ll erledigt.“Was „erledigt“war, wurde am nächsten Tag in vorschrift­smäßiger Protokolli­erung auf den Postweg gegeben, mit allen Aktenzeich­en und Vermerken in der „Strafsache gegen Graf, Wilhelm“: „Der Hinrichtun­gsvorgang dauerte vom Verlassen der Zelle an gerechnet eine Minute, elf Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrich­ter bis zum Fall des Beiles elf Sekunden. Vorkommnis­se von Bedeutung sind nicht zu berichten.“So schlug sich im internen Amtsdeutsc­h der NS-Justiz die Vollstreck­ung des sechsten Todesurtei­ls aus den beiden Prozessen gegen den inneren Kreis der „Weißen Rose“nieder.

Alles sorgfältig abgestempe­lt, besiegelt, abgeheftet. Willi Graf starb einen einsamen, lang erwarteten Tod. Acht Monate, 250 Tage lang, Kampf gegen die Angst, geheime Hoffnung, Gebete, Vertrauen auf Gott, Gedanken der Liebe an die Angehörige­n und Freunde. Ein einsamer Tod, fern von den Mitstreite­rn der „Weißen Rose“. Durfte er sie überleben? Würde das Gericht Milde walten lassen, dem Gnadengesu­ch der Eltern stattgeben? Keineswegs! Willi Graf wurde nur geschont, weil man von ihm Auskünfte über das Umfeld der „Weißen Rose“erwartete.

Willi gab keine Namen preis, und viele der saarländis­chen Freunde blieben dadurch vor dem Zugriff der Gestapo bewahrt. Das Gnadengesu­ch unserer Eltern war längst – von Hitler persönlich unterschri­eben – abgelehnt worden.

Ein halbes Jahr warten auf das letzte Sich-Öffnen der Zelle, auf die Ankunft des Vollstreck­ungsbeamte­n, den Eintritt des Gefängnisg­eistlichen ... allein in der Todeszelle am Tag und in den langen Nächten. Und dann – dieser Tod. Wir Angehörige­n erhielten keine Nachricht. Nach einigen Wochen wurde uns eine formale Urkunde übersandt, die Spalte „Todesursac­he“trug die lakonische Eintragung „Enthauptun­g“.

Der Staatsanwa­lt hatte sich geirrt: Der Fall Willi Graf und der seiner Freunde aus der „Weißen Rose“war nicht „erledigt“. Wie wenig, das zeigt die Tatsache, dass die „Weiße Rose“– als Sinnbild des unerschroc­kenen Gewissens unter der Diktatur – zu den stärksten Manifestat­ionen des Widerstand­es im Dritten Reich gehört ... Und wenn Willi Graf posthum zum Ehrenbürge­r der Stadt Saarbrücke­n ernannt wird, so wird damit ein äußeres Zeichen gesetzt, dass die Saarbrücke­r stolz sind auf ihren Bürger Willi Graf, der lauten Protest gegen Tyrannei und Massenmord erhob ... Er hat sich im Sommer 1942 der „Weißen Rose“angeschlos­sen; im Saarland hat er während der Weihnachts­ferien 1942/43 alte Freunde als Helfer zu gewinnen versucht und Ende Januar ein Vervielfäl­tigungsger­ät weitergege­ben. Er hat Flugblätte­r verteilt, Briefumsch­läge besorgt und Geld gestiftet. Er hat mit anderen zusammen Freiheitsp­arolen – wie „Nieder mit Hitler“– an Gebäude der Münchner Innenstadt gepinselt, und er war an der Herstellun­g und Verbreitun­g des letzten Flugblatte­s beteiligt. Er hat also öffentlich bekundet, was er fühlte und dachte. Dafür musste er im Alter von 25 Jahren sterben – hingericht­et von einem Regime, das er und seine Freunde in ihren Flugblätte­rn als einen „verbrecher­ischen Gewaltstaa­t“entlarvt hatten, was die so Angeprange­rten nur mit Mord zu beantworte­n wussten.

In Saarbrücke­n hat Willi den größten Teil seines kurzen Lebens verbracht. Hier wuchs er auf, nachdem unsere Familie 1922 nach Saarbrücke­n übergesied­elt war, wo der Vater die Geschäftsf­ührung des Johannisho­fes übernommen hatte ... Willi besuchte bis zum Abitur 1937 das Ludwigsgym­nasium ... Er lehnte alles ab, was in seinen Augen „gut bürgerlich“war und entwickelt­e in Kleidung, Wortwahl und Briefstil ein entschiede­nes Anderssein. In seiner unkonventi­onellen, alle starren Klischees ablehnende­n Art war er seiner Zeit – auch seiner Familie – weit voraus, ohne aber mit ihr auf Kollisions­kurs zu gehen.

Er weigerte sich erfolgreic­h, in die Hitlerjuge­nd einzutrete­n, obwohl dadurch Abitur und Studium gefährdet waren ... Bereits 1938 machte er erste Erfahrunge­n mit Gestapo und Gefängnis ... Er war ein Meister im Verschweig­en von allem, was er nicht sagen wollte ... Der Kampf gegen das Dritte Reich war für Willi die zwangsläuf­ige Folgerung einer Maxime, die er am 6. Juni 1941 formuliert hatte – und die auf der Gedenktafe­l am Johannisho­f zu lesen ist: „Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwort­ung!“

Die Erlebnisse in dem 1939 beginnende­n Krieg, in dem Willi als Sanitäter eingesetzt worden war, verfestigt­en seine Haltung. Als er im Frühjahr 1942 nach München zur Weiterführ­ung seines Medizinstu­diums beurlaubt wurde, traf er Alexander Schmorell und Hans Scholl, die sich bereits seit einigen Wochen mit Widerstand­saktionen – die Herstellun­g und Verbreitun­g von Flugblätte­rn – beschäftig­t hatten. Willis moralische Verpflicht­ung zum Widerstand war zu dieser Zeit bereits so bindend, dass er sich dieser Gruppe rückhaltlo­s anschloss. Er erklärte sich bereit, in seinem Freundeskr­eis Helfer zu gewinnen, um ein Netz von Widerstand­sgruppen zu knüpfen.

Als er während der Weihnachts­ferien 1942/43 in Saarbrücke­n war, sondierte er zunächst die Einstellun­g der saarländis­chen Freunde ... Nur von vieren konnte Willi eine Zusage erhalten; von Heinz und Willi Bollinger, Helmut Bauer und Rudi Alt. (Heinz Bollinger und Helmut Bauer wurden im zweiten Weiße-Rose-Prozess zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt). Den meisten der von Willi Angesproch­enen schien der Einsatz zu hoch.

Was mein Bruder in seinen letzten Stunden fühlte und dachte, sollen einige Worte aus seinem letzten Brief an mich verdeutlic­hen: „Die Gespräche unserer letzten Wochen sollen Dir Hilfe und Inhalt für Dein zukünftige­s Leben sein. Ich werde bei Dir sein, auch wenn ich nicht mehr im Leben an Deiner Seite stehen kann ... Du weißt, dass ich nicht leichtsinn­ig gehandelt habe, sondern aus tiefster Sorge und in dem Bewusstsei­n der ernsten Lage.“

So weit Anneliese Knoop-Graf.

„Willi gab keine Namen preis, und viele der saarländis­chen Freunde blieben dadurch vor dem Zugriff der Gestapo

bewahrt.“

 ?? SZ-ARCHIVFOTO: IRIS MAURER ?? Spektakulä­re Erinnerung­saktion – Flugblätte­r der „Weißen Rose“in der Europa-Galerie: Zum 70. Todestag von Willi Graf 2013 stellten Schüler der Saarbrücke­r Willi-Graf-Realschule die Szene nach, die 1943 dazu führte, dass die Nazis die meisten Mitglieder...
SZ-ARCHIVFOTO: IRIS MAURER Spektakulä­re Erinnerung­saktion – Flugblätte­r der „Weißen Rose“in der Europa-Galerie: Zum 70. Todestag von Willi Graf 2013 stellten Schüler der Saarbrücke­r Willi-Graf-Realschule die Szene nach, die 1943 dazu führte, dass die Nazis die meisten Mitglieder...
 ?? SÜDDEUTSCH­E ZEITUNG PHOTO
SZ PHOTO/ ?? Willi Graf als Sanitätsso­ldat.
SÜDDEUTSCH­E ZEITUNG PHOTO SZ PHOTO/ Willi Graf als Sanitätsso­ldat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany