Saarbruecker Zeitung

Zahl der Organspend­er auf neuem Tiefpunkt

10 000 Menschen hoffen derzeit auf ein lebensrett­endes Organ. Doch die Zahl der Spender sinkt.

- VON ULRIKE VON LESZCZYNSK­I

BERLIN/SAARBRÜCKE­N (dpa/SZ) Die Zahl der Organspend­er in Deutschlan­d hat 2017 einen neuen Tiefpunkt erreicht. Nach den Statistike­n der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation (DSO) gab es nur 797 Spender, 60 weniger als im Vorjahr. Das ist der niedrigste Stand seit 20 Jahren, teilte die Stiftung mit. „Leider werden wir erstmals unter die Marke von zehn Spendern pro eine Million Einwohner rutschen“, sagte Axel Rahmel, Medizinisc­her Vorstand der DSO. In der Historie der Stiftung sei das, gerechnet ohne die Anfangsjah­re der Organspend­e, noch nie passiert. „Im internatio­nalen Vergleich war Deutschlan­d bisher im unteren Mittelfeld. Jetzt stehen wir fast hinter allen westeuropä­ischen Ländern. Das ist eine dramatisch­e Entwicklun­g.“

Rahmel sieht die Gründe für den Rückgang der Spenderzah­len in Deutschlan­d weniger in der mangelnden Bereitscha­ft der Bevölkerun­g. Eine Ursache sei die enorme L eis tungs verdichtun­g in den Kliniken. Er wünscht sich zudem Verbesseru­ngen in der Organisati­on der rund 1250 Kliniken in Deutschlan­d, die zum Organspend­e-System gehören. So habe zum Beispiel Bayern im Vorjahr Trans plan tat ions beauftragt­e erstmals für ihre Aufgabe freigestel­lt. Die Spender zahlen seien um 18 Prozent gestiegen – der höchste Wert unter allen Bundesländ­ern. Die Entwicklun­g war 2017 regional sehr unterschie­dlich. Während neben Bayern auch Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland eine Zunahme der Spender verzeichne­ten, ging der Bundestren­d generell zurück. Im Saarland spendeten insgesamt 16 Menschen nach ihrem Tod Organe – vier mehr als 2016.

„Die Organspend­e liegt am Boden“, sagte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientens­chutz. Dennoch werde das Thema in dem Sondierung­spapier von Union und SPD mit keinem Wort erwähnt. Angesichts von rund 10 000 Schwerstkr­anken auf der Warteliste müsse dringend gehandelt werden, erklärte Brysch.

BERLIN (dpa) Das Sauerstoff­gerät in der Berliner Charité zischt leise. Ein blauer Schlauch endet in der Nase von Wolfgang Wachs. Sein Lebensradi­us ist auf zehn Quadratmet­er zusammenge­schrumpft, auf die Größe seines Krankenzim­mers auf der Lungenstat­ion. Der kleine gelbe Rettungshu­bschrauber, ein Spielzeugm­odell neben dem Bett, lässt ahnen, was das für ihn bedeutet. Wachs (60) ist Notarzt mit Leidenscha­ft. Die vergangene­n 20 Jahre ist er als Lebensrett­er zur Stelle gewesen, auf der Straße, zu Wasser und schließlic­h auch mit dem Helikopter aus der Luft. Nun ist er ein todkranker Patient, den nur noch eine Organspend­e retten kann – eine neue Lunge.

2011 bekam Wachs die Diagnose Lungenfibr­ose, eine seltene Krankheit, bei der die Lunge versteift und den Körper mit immer weniger Sauerstoff versorgt. Weihnachte­n 2016 gab er seinen Job auf, ihm fehlte die körperlich­e Kraft. Weihnachte­n 2017 verbrachte er schon in der Charité, weil es zu Hause in Brandenbur­g nicht mehr ging. Und immer noch wartet er. Auf einen Anruf, auf die erlösende Nachricht, dass es eine Spenderlun­ge für ihn gibt.

10 000 Menschen stehen in Deutschlan­d auf der Warteliste für Spenderorg­ane. Rund jeden dritten Tag ist im vergangene­n Jahr ein Patient gestorben, weil es nicht rechtzeiti­g eine passende Niere, Leber, Lunge oder ein Herz gab. 2017 ist die Zahl der Organspend­er in Deutschlan­d auf ein historisch­es Tief gesunken – auf 797. Wolfgang Wachs weiß, dass damit seine Chancen auf den Anruf weiter sinken. „Es ist kein schöner Gedanke, dass jemand sterben muss, damit ich weiterlebe­n kann“, sagt er. Doch er will leben.

Bei der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation in Frankfurt nennt der Medizinisc­he Chef Axel Rahmel die Lage dramatisch. Auch er ist Arzt, Herzspezia­list. Er glaubt nicht daran, dass die Bundesbürg­er nach ihrem Tod einfach keine Organe mehr spenden wollen. Trotz des Skandals 2012, als ans Licht kam, dass Transplant­ationsmedi­ziner an einigen Kliniken ihre Patienten auf dem Papier kränker gemacht hatten, als sie waren. Damit rückten sie auf den Warteliste­n weiter nach oben. Dieser Praxis sind lange Riegel vorgeschob­en. Und so heftig wie damals sind die Spenderzah­len auch nicht mehr auf einmal gesunken. Aber es ging eben stetig weiter bergab.

Rahmel geht davon aus, dass in Familien heute mehr über Organspend­e gesprochen wird als früher. Auch die Zahl der Spenderaus­weise nehme zu. Woran liegt es dann? Daran, dass die Bundesbürg­er einer Organspend­e aktiv zustimmen, während ihr zum Beispiel die Spanier aktiv widersprec­hen müssen – und mit dieser Regelung in Europa Spende-Meister sind? Rahmel schüttelt den Kopf. „Entscheide­nd ist nicht die gesetzlich­e Regelung, sondern die Haltung“, sagt er. „Wir brauchen eine gelebte Kultur der Organspend­e.“

Diese Kultur scheint in manchen der rund 1200 Kliniken, die in Deutschlan­d zum System Organspend­e gehören, zu fehlen. Rund 700 haben sich 2017 nicht ein einziges Mal bei der DSO gemeldet. Schon rein rechnerisc­h kann es nicht hinkommen, dass dort kein Patient als potenziell­er Spender in Frage kam. Denn die Zahl schwerer Hirnschädi­gungen sei trotz der immer moderneren Rettungsme­dizin nicht rapide gesunken, sagt Rahmel.

Für die vor der Organentna­hme nötige Hirntod-Diagnostik gibt es strenge Auflagen. Ganz bewusst soll mit der Organspend­e auch kein Geld verdient werden können. Ein hirntoter Patient aber belegt – rein ökonomisch betrachtet – ein gewinnbrin­gendes Bett auf der Intensivst­ation. Das kann ein Spagat für ein Klinik-Management sein, das auf die Zahlen schauen muss. Es gibt bei Organspend­en Aufwandsen­tschädigun­gen für Kliniken. In Einzelfäll­en ist das laut DSO aber zu wenig, um die Kosten zu decken. Das sei auch nicht gerade eine Motivation für Krankenhäu­ser, sich stark zu engagieren.

Wolfgang Wachs braucht jetzt im Krankenzim­mer eine Extra-Portion Sauerstoff – zum Sprechen. Bevor er als Notarzt durchstart­ete, arbeitete er lange auf einer Berliner Intensivst­ation. „Ich habe Organspend­e damals auch nicht im Blick gehabt“, sagt er selbstkrit­isch. Die fehlende Kultur der Organspend­e kann für die D SO auch dar anliegen, das seinige Trans plan tat ions beauftragt­e keine Zeit für ihren Job haben. Oder dass es so sehr an Anerkennun­g für ihre Arbeit fehlt, dass sie sich nicht voll reinhängen. Dabei geht es nur um einen Moment – um den Augenblick, bevor Ärzte im Einverstän­dnis mit Angehörige­n beim Hirntod eines Patienten die Maschinen abstellen. Wenn da einige Menschen mehr an Organspend­e dächten – für Experte Axel Rahmel wäre schon viel gewonnen.

In Nordrhein-Westfalen, das zeigt laut DSO eine Studie, haben Ärzte in weniger als 15 Prozent solcher Fälle in diesem Moment den Trans plan tat ions beauftragt­en überhaupt Bescheid gesagt. Und es gibt noch eine Tücke. Wer in einer Patienten verfügung auf intensiv medizinisc­he Therapien verzichtet, kann kein Organ spender sein. Denn Hirn tod heißt, nicht mehr allein atmen zu können. Wem Organspend­e wichtig ist, der muss Verfügunge­n so formuliere­n, dass er einer zeitlich begrenzten Intensivth­erapie zustimmt. Doch wer weiß das schon?

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FOTO: KASPER/DPA Viele todkranke Menschen warten sehnsüchti­g auf ein Organ: Hier wird einem Spender eine Niere entnommen, die für eine Transplant­ation vorgesehen ist.
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FOTO: WALDMANN/IMAGO Obwohl die Zahl der Spendeausw­eise zunimmt, werden weniger Organe transplant­iert.

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