Saarbruecker Zeitung

Opferanwäl­te kritisiere­n lange Verfahren

Ermittlung­sverfahren im Saarland dauern immer länger. Opferanwäl­te und Gewerkscha­ften machen den Personalab­bau bei Polizei und Justiz der vergangene­n Jahre dafür verantwort­lich. Das Justizmini­sterium sieht die Ursachen woanders.

- VON NORA ERNST Produktion dieser Seite: Christine Kloth, Nora Ernst Dietmar Klosterman­n

Ermittlung­sverfahren im Saarland dauern immer länger. Opferanwäl­te und Gewerkscha­ften machen den Personalab­bau bei Justiz und Polizei dafür verantwort­lich. Das Justizmini­sterium sieht die Ursachen woanders.

SAARBRÜCKE­N Über Jahre hinweg wird eine junge Frau, die als Aushilfe in der Küche eines Restaurant­s arbeitet, von einem Kollegen bedrängt. Immer wieder fasst er ihr unters Hemd und in die Hose. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus, erstattet Anzeige und hört erst mal – nichts. 2,5 Monate vergehen, bis sie schließlic­h von der Polizei zur Vernehmung eingeladen wird. Ein Unding, findet die Saarbrücke­r Opferanwäl­tin Claudia Willger, die den Fall schildert: „Betroffene sollten spätestens nach ein bis zwei Wochen vernommen werden.“Die Opferbetre­uung „Weißer Ring“hält sogar zwei bis vier Tage für angemessen. Laut Willger ist das kein Einzelfall. Immer länger müssten Opfer von Kriminalit­ät darauf warten, bis sich jemand um ihren Fall kümmert. Und das Problem liege nicht allein bei der Polizei. Auch bis die Staatsanwa­ltschaft Anklage erhebe, vergehe immer mehr Zeit. „Die Dauer von Ermittlung­sverfahren erreicht immer traurigere Rekorde“, sagt Willger. In einem besonders drastische­n Fall seien zwischen Anzeige und Anklageerh­ebung 3,5 Jahre vergangen.

Für Willger ist der Fall klar: Die Personalno­t bei Polizei und Staatsanwa­ltschaft im Saarland, die auch die Gewerkscha­ften seit Jahren beklagen, bleibt nicht ohne Folgen für Kriminalit­ätsopfer. „Für die Betroffene­n ist das eine große Belastung, weil sie mit dem Ganzen nicht abschließe­n können“, sagt Willger. Zudem hätten sie das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Verschärft werde die Situation dadurch, dass es im Saarland kaum Gutachter gebe, die häufig bei Sexualdeli­kten eingeschal­tet werden, um zu prüfen, ob eine Aussage glaubwürdi­g ist. „Das führt zu weiteren Verzögerun­gen“, sagt Willger.

Gewerkscha­ftsvertret­er bestätigen Willgers Erfahrunge­n. Zahlen, die das belegen würden, haben sie zwar nicht. Dass die Personalkn­appheit aber nicht ohne Folgen bleiben kann, ist aus ihrer Sicht logisch. „Die Polizei musste einen Personalab­bau von etwa zehn Prozent verkraften, das führt einfach zu Engpässen“, sagt Ralf Porzel von der Gewerkscha­ft der Polizei. Auch Werner Kockler vom Richterbun­d, der die Staatsanwä­lte vertritt, sagt: „Die Staatsanwä­lte haben eine Arbeitsbel­astung von 150 Prozent. Dass die Verfahren länger dauern, ist eigentlich klar.“Gerhard Müllenbach vom „Weißen Ring“kann hingegen nicht bestätigen, dass sich die Situation der Opfer in den vergangene­n Jahren verschlech­tert hat: „Dass Verfahren zu lange dauern, beklagen wir seit Jahr und Tag.“Das liege aber nicht am Personalma­ngel, sondern an den oft langwierig­en bürokratis­chen Abläufen, meint er.

Das Innenminis­terium, das für die Polizei zuständig ist, führt keine Statistik darüber, wie lange ermittelt wird: Das hänge immer vom Einzelfall ab, erklärt eine Sprecherin. In der Regel müssten Strafanzei­gen und Ermittlung­sverfahren, die das Landespoli­zeipräsidi­um einleitet, spätestens nach acht Wochen der Staatsanwa­ltschaft vorgelegt werden. Dauere es länger, könnten sich die Ermittler mit dem zuständige­n Staatsanwa­lt absprechen.

Das Justizmini­sterium hat hingegen genauer hingeguckt und bestätigt, dass die Dauer der Verfahren in den vergangene­n fünf Jahren gestiegen ist. Sowohl die Stellen, die die Ermittlung­en einleiten – das können Polizei, Staatsanwa­ltschaft, Steueroder Zollfahndu­ng oder eine Verwaltung­sbehörde sein – brauchen länger, bis sie den Fall an die Staatsanwa­ltschaft abgeben, als auch die Staatsanwä­lte, bis sie Anklage erheben. 2012 vergingen im Schnitt 4,2 Monate zwischen Anzeige und Anklage, 2016 waren es 5,3 Monate – und damit knapp ein Monat mehr als im Bundesdurc­hschnitt (4,4 Monate). Das liege aber nicht daran, dass bei der Staatsanwa­ltschaft Personal abgebaut worden sei, betont Sirin Özfirat, Sprecherin des Justizmini­steriums. Im Gegenteil sei hier aufgestock­t worden: von 49 Planstelle­n im Jahr 2007 auf 60 im Jahr 2017. Sie begründet es damit, dass schlichtwe­g mehr Verfahren bei der Staatsanwa­ltschaft eintrudeln. Vor allem 2015 während der Flüchtling­skrise habe es einen „massiven Anstieg“wegen Schleuserk­riminalitä­t und Asylverfah­ren gegeben. Gingen 2012 noch rund 52 400 Strafsache­n bei der Staatsanwa­ltschaft ein, waren es 2016 rund 59 700. Mit diesem Arbeitspen­sum landeten die saarländis­chen Staatsanwä­lte in den vergangene­n Jahren immer an erster oder zweiter Stelle im bundesweit­en Vergleich. Gleichzeit­ig seien die Ermittlung­en viel komplexer geworden, sagt sie, etwa in Fällen von Cyberkrimi­nalität.

Dass sich Verfahren verzögern, weil es im Saarland nicht genug Gutachter gibt, trifft laut Özfirat nicht zu. Zwar gebe es derzeit nur drei Gutachter, die Kapazität im Land sei „weitgehend ausgeschöp­ft“, räumt sie ein. Allerdings könnten Staatsanwä­lte und Richter auch Gutachter aus anderen Bundesländ­ern beauftrage­n. Das Ministeriu­m will die Lage nun „aufmerksam beobachten“und prüfen, ob in benachbart­en Ländern Gutachter zur Verfügung stehen.

Özfirat ist zuversicht­lich, dass die Fälle bald schneller über den Tisch gehen werden: Bis Ende des Jahres soll die Zahl der Staatsanwä­lte von 60 auf 66 steigen. Gewerkscha­fter Kockler zufolge wird es jedoch schwierige­r, fähige Leute zu finden. Laut Richterbun­d gehen in den nächsten 15 Jahren rund 40 Prozent aller Richter und Staatsanwä­lte in Bund und Ländern in den Ruhestand. Die Konkurrenz um die Fachkräfte wächst, und dafür sieht Kockler das Saarland schlecht aufgestell­t: „Die Eingangsbe­soldung im Saarland ist die schlechtes­te bundesweit.“Laut Özfirat trifft die Pensionier­ungswelle jedoch vor allem die ostdeutsch­en Bundesländ­er. Im Saarland gebe es keine Probleme, qualifizie­rten Nachwuchs zu finden.

Und die junge Küchenaush­ilfe? „Sie meldet sich nicht mehr“, sagt Anwältin Willger „Sie fühlte sich irgendwann nicht mehr ernst genommen.“Der Täter wird wohl ungeschore­n davonkomme­n.

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA Die Arbeitsbel­astung der Staatsanwä­lte im Saarland liegt bei 150 Prozent. Bis Ende des Jahres sollen sechs zusätzlich­e Stellen geschaffen werden.
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