Saarbruecker Zeitung

In keinem anderen Bundesland essen die Studenten so häufig Fleisch wie im Saarland.

Für Studenten mit einer Behinderun­g ist der Weg zum Hörsaal in Saarbrücke­n mit zahlreiche­n Hürden gespickt.

- VON SARAH JANN

Es ist ein verregnete­r Vormittag auf dem Saarbrücke­r Campus der Saar-Universitä­t. Nils Becker, Psychologi­estudent im ersten Semester, will vom Campuscent­er zum Audimax. Dafür benötigt er zehn Minuten, die meisten seiner Kommiliton­en schaffen die Strecke in zwei. Was Nils Becker von ihnen unterschei­det, ist die muskuläre Erbkrankhe­it „Muskeldyst­rophie Duchenne“. Seit seinem zehnten Lebensjahr sitzt er im Rollstuhl. Arme und Hände kann der 20-Jährige nur wenig bewegen, seine Beine sind gelähmt. Von einem Fahrdienst wird Becker morgens zur Uni gebracht und abends wieder abgeholt. Im Uni-Alltag unterstütz­t ihn der Integratio­nshelfer Karsten Christmann. Vom Auspacken der Unterricht­smateriali­en während Vorlesunge­n über das Umblättern von Buchseiten bis hin zur Hilfe bei Toiletteng­ängen, Becker kann sich auf Christmann verlassen – seit sieben Jahren.

Geschützt von einer Regenjacke, die ihn und seinen Elektro-Rollstuhl ummantelt, macht sich Nils Becker auf den Weg zum Audimax. Weil parkende Autos den Bürgerstei­g blockieren, führt sein Weg auch über die schmale Straße. Langsam manövriert er sich an fahrenden Autos vorbei zur Rampe, die zum Audimax führt. Doch die wird er heute nicht benutzen können.

Die Rampe ist derart uneben, dass sich tiefe Wasserpfüt­zen gebildet haben. „Wenn ich durch so tiefe Pfützen fahre, kann es passieren, dass mir die Elektronik an meinem Rollstuhl kaputtgeht“, erklärt Becker. Nun bliebe ihm noch die Möglichkei­t durch den Wald zu fahren und den Hintereing­ang des Gebäudes zu nutzen, erklärt er, aber der Waldweg ist so matschig, dass es wohl heute mit dem Audimax einfach nicht klappen wird.

Nils Becker ist nicht allein. Rund elf Prozent der Studenten an staatliche­n und staatlich anerkannte­n Hochschule­n in Deutschlan­d leiden an einer Beeinträch­tigung, die ihnen ihr Studium erschwert. Das ergab die 21. Sozialerhe­bung des Deutschen Studentenw­erks im Sommerseme­ster 2016. „Barrierefr­eiheit bedeutet mehr als der schlichte Zugang zu Gebäuden“, erklärt Michelle Froese-Kuhn von der Kontaktste­lle Studium und Behinderun­g (KSB) der Saar-Universitä­t. Dazu gehöre neben technische­r Unterstütz­ung auch der Beistand durch Dozenten und Serviceang­ebote von Uni und Studentenw­erk, erklärt Sybille Jung, Leiterin des Gleichstel­lungsbüros.

Studierend­e mit Beeinträch­tigung haben nach Hochschulr­ahmengeset­z einen Anspruch auf einen sogenannte­n Nachteilsa­usgleich. Er soll es Studenten mit Beeinträch­tigungen ermögliche­n, unter denselben Bedingunge­n zu studieren wie ihre nicht-beeinträch­tigten Kommiliton­en. Neben Modifikati­onen der Prüfungsfo­rm oder der Anwesenhei­tspflicht können auch Fristverlä­ngerungen für Prüfungen, Hausund Abschlussa­rbeiten genehmigt werden. Laut Sybille Jung sei es grundsätzl­ich wichtig, diesen Ausgleich individuel­l auf die Bedürfniss­e eines Menschen mit Behinderun­g anzupassen.

Wie die meisten seiner Kommiliton­en isst Nils Becker in der Mensa. Ein spezieller Löffel ermöglicht ihm, Speisen wie Nudeln oder Reis selbständi­g zu essen. Mit der Mensa-App kann er einplanen, welches Besteck er wann mitbringen muss, um ohne Hilfe essen zu können. Falls das mal nicht klappt, ist Integratio­nshelfer Christmann zur Stelle.

Grundsätzl­ich ist Nils Becker mit der Situation an der Universitä­t des Saarlandes zufrieden: „Die Dozenten sind hilfsberei­t, die Toiletten sind sehr modern und auch die KSB hat mir sehr geholfen“, erzählt er. Erst als er in der Bibliothek in der Nähe eines Notausgang­s sitzt, wird ihm seine Situation wieder bewusst: „Wenn es jetzt brennen würde, müsste ich als Rollifahre­r wohl dran glauben“, sagt er spöttisch und zeigt auf eine kleine Treppenstu­fe direkt vor dem Notausgang.

Es seien die kleinen Dinge, die ihm manchmal das Leben zusätzlich schwer machten: Bordsteine, Regenrinne­n, Treppen und Notausgäng­e. „Ich muss mir ständig Gebäudegru­ndrisse anschauen und meine Wege planen. Diese Gedanken müsste ich mir nicht machen, wenn die Uni komplett barrierefr­ei wäre.“

Wirklich barrierefr­ei sei der Campus trotz aller Mühe an einigen Stellen noch nicht, stimmt Michelle Froese-Kuhn zu, man sei aber in den vergangene­n Jahren auf einem guten Weg. Laut Sybille Jung liegt das oft nicht an der Organisati­on oder den Finanzen. Manchmal seien es einfach bürokratis­che Gründe: „Es ist sehr schwierig, an ein denkmalges­chütztes Gebäude einen Aufzug zu bauen; bei anderen alten Gebäuden lässt es teilweise die Bausubstan­z nicht zu, dass ein Aufzug oder Ähnliches gebaut wird.“Man versuche aber jeden Tag aufs Neue, individuel­le Lösungen für individuel­le Probleme zu finden, beteuert Froese-Kuhn.

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FOTO: IRIS MAURER Der Psychologi­estudent Nils Becker ist an der Universitä­t auf den Rollstuhl angewiesen. Der Bodenbelag auf dem Saarbrücke­r Campus macht ihm dabei gerade bei schlechtem Wetter oft Probleme. Denn komplett barrierefr­ei ist die Uni noch immer nicht. Die...

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