Saarbruecker Zeitung

Wenn der Tod Leben retten kann

Der Rückgang der Organspend­er in Deutschlan­d löst auch im Saarland Sorgen aus. Experte Urban Sester sieht mehrere Gründe.

- VON CHRISTINE MAACK Produktion dieser Seite: Frauke Scholl Barbara Scherer

HOMBURG Wenn im Frühsommer die ersten Motorradfa­hrer ihre Bikes aufpoliere­n, um sich waghalsig in die Kurven zu legen, fragt man sich als besorgter Autofahrer, ob das wohl gut gehen mag. Und prompt liest man hie und da von tödlichen Unfällen. Dennoch ist der 30-jährige verunglück­te Motorradfa­hrer, der seine Organe spendet, eine Legende. „Das sitzt zwar irgendwie in den Köpfen fest, aber Motorradfa­hrer spielen in der Statistik der Organspend­en keine große Rolle“, betont Professor Urban Sester, Leiter des Transplant­ationszent­rums des Saarlandes am Universitä­tsklinikum in Homburg. Wer ist denn nun der eigentlich­e Organspend­er? „Das ist in Deutschlan­d in den meisten Fällen eine Person über 50 Jahre, mit plötzliche­m Schlaganfa­ll oder Herztod“, sagt Sester.

Die Zahl der Organspend­er in Deutschlan­d hat 2017 einen neuen Tiefpunkt erreicht. Nach Zahlen der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation gab es nur 797 Spender, 60 weniger als im Vorjahr – und zudem der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Gleichzeit­ig warten bundesweit 10 000 Menschen auf ein lebensrett­endes Organ. Nicht nur die Stiftung spricht von einer „dramatisch­en Entwicklun­g“. Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz beklagt, dass die Politik das Thema vernachläs­sige. Angesichts von rund 10 000 Schwerstkr­anken auf der Warteliste müsse die (künftige) Bundesregi­erung dringend handeln.

Urban Sester bezeichnet die Situation als „Katastroph­e“. Zwar hat sich die Spenderzah­l im Saarland nicht verschlech­tert. 16 Menschen spendeten im vergangene­n Jahr nach ihrem Tod Organe, vier mehr als im Vorjahr. Trotzdem: Der allgemeine Trend alarmiert Sester. Zumal in kaum einem anderen Bereich so sehr das Sprichwort gelte: Des einen Freud’ ist des anderen Leid. Denn wer ein Organ spendet, muss eindeutig hirntot sein. Die Feststellu­ng eines Herz-Kreislauf-Stillstand­s alleine genügt nicht für eine Entnahme. Sester: „Doch glückliche­rweise für die Betroffene­n sterben in Deutschlan­d nicht mehr so viele Menschen an Unfällen. Die Autound Motorradun­fälle sind zurückgega­ngen, wir haben eine Helmpflich­t, eine Gurtpflich­t und noch dazu eine schnelle, wirklich tolle Diagnostik, das heißt, es kann sofort festgestel­lt werden, wo die Verletzung liegt und wie man den Verletzten behandeln kann.“Das Makabere an der Geschichte: Je weniger Menschen bei Unfällen sterben, desto weniger Organe sind verfügbar.

Einen weiteren Grund für den Organspend­er-Rückgang sieht Sester in dem vor rund sechs Jahren hochgekoch­ten Transplant­ationsskan­dal, „aber der ist abgearbeit­et, es sind Verordnung­en in Kraft gesetzt worden, das Vertrauen kommt langsam wieder.“Der dritte Punkt: Viele Menschen nähmen die Thematik Organspend­e einfach nicht zur Kenntnis. Und hier, sagt Sester, müsse man ansetzen.

Das Saarland sei hier auf einem guten Weg, Intensivme­diziner und Fachärzte könnten sich in einer mehrtägige­n Schulung zum Transplant­ationsbeau­ftragten ausbilden lassen. Was verbirgt sich hinter dem Mammut-Wort? „Das ist eine schwierige Aufgabe, die man mit viel Fingerspit­zengefühl angehen muss“, betont Experte Sester, der früher selbst solche Gespräche geführt hat. Wer möchte schon Angehörige­n, die durch den plötzliche­n Tod ihres Verwandten unter Schock stehen, mit einem Gespräch über eine Organspend­e kommen? „Deshalb ist es gut, wenn sich jeder mal selbst Gedanken machen würde“, sagt Sester, „den kurzen, schmerzlic­hen Gedanken an sein eigenes Ende zulassen und einen Zettel hinterlege­n oder mit den Angehörige­n darüber sprechen.“Dann falle es gegenüber dem Arzt viel leichter, „im Sinne des Verstorben­en noch etwas für ihn und für andere zu tun“. Sei dies nicht der Fall, entstehe oft eine Konfliktsi­tuation für die Angehörige­n – soll man die Freigabe zur Organentna­hme geben oder nicht? Was wäre im Sinne des Verstorben­en gewesen?

Sester zufolge ist es ganz wichtig, dass die Angehörige­n Zeit hätten und sich keinesfall­s bedrängt fühlten. Das sei Aufgabe des Transplant­ationsbeau­ftragten, der nur beratend zur Seite stehen dürfe, „um das Für und Wider abzuwägen und die Hinterblie­benen aufzukläre­n. Die Entscheidu­ng bleibt natürlich allein denjenigen Menschen überlassen, die dem Verstorben­en nahe standen. Das Gespräch ist selbstvers­tändlich ergebnisof­fen.“Es gehe bei der Beratung auch um rechtliche Dinge, von der Feststellu­ng des eindeutige­n Hirntodes bis zum Ausfüllen der Einverstän­dniserklär­ung zur Spende.

Es sei eine sehr private und intime Entscheidu­ng im Angesicht des Todes. Wer sich nicht sicher sei, solle sich nicht gedrängt fühlen, einer Organspend­e zustimmen zu müssen. „Die unmittelba­re und extreme Situation im Todesfall ist etwas ganz anderes als die Aufarbeitu­ng des Verlustes nach ein paar Monaten“, sagt Urban Sester. Und er hat die Erfahrung gemacht, „dass es später für die Angehörige­n sogar ein Trost sein kann, dass die Organe des Verstorben­en einem anderen Menschen das Leben retten konnten, dass der Tod nicht endgültig und sinnlos war“. Um diesen Trost und auch die Trauer zu teilen, habe sich in der Region Saarland/Rheinland-Pfalz eine Gruppe von Angehörige­n von Organspend­ern gebildet.

Für Professor Urban Sester hat das Thema Organspend­e nicht nur eine praktische und ethische, sondern auch eine gesellscha­ftliche Seite. „Es geht um Organe, die die Gesellscha­ft, also wir alle, zur Verfügung stellen. Das zeigt unsere grundlegen­de Einstellun­g zu diesem Thema“, sagt der Mediziner. Wenn nur wenige Organe zur Verfügung gestellt würden, „dann sagt das auch viel über unser Zusammenle­ben und unsere Gesellscha­ft aus“.

„Das sagt auch viel

über unsere Gesellscha­ft aus.“

Urban Sester,

Chef des Transplant­ationszent­rums der Uniklinik Homburg, zum Rückgang der

Organspend­er-Zahlen

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FOTO: WELTERS/LAIF In Deutschlan­d werden immer seltener Organe transplant­iert, denn die Zahl der Spender ist historisch niedrig. 797 Spenden gab es 2017, 60 weniger als im Vorjahr. 10 000 Schwerstkr­anke warten derweil auf ein lebensrett­endes Organ.
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FOTO: DIETZE Professor Urban Sester ist Chef des Transplant­ationszent­rums der Uniklinik des Saarlandes in Homburg.

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