Wenn der Tod Leben retten kann
Der Rückgang der Organspender in Deutschland löst auch im Saarland Sorgen aus. Experte Urban Sester sieht mehrere Gründe.
HOMBURG Wenn im Frühsommer die ersten Motorradfahrer ihre Bikes aufpolieren, um sich waghalsig in die Kurven zu legen, fragt man sich als besorgter Autofahrer, ob das wohl gut gehen mag. Und prompt liest man hie und da von tödlichen Unfällen. Dennoch ist der 30-jährige verunglückte Motorradfahrer, der seine Organe spendet, eine Legende. „Das sitzt zwar irgendwie in den Köpfen fest, aber Motorradfahrer spielen in der Statistik der Organspenden keine große Rolle“, betont Professor Urban Sester, Leiter des Transplantationszentrums des Saarlandes am Universitätsklinikum in Homburg. Wer ist denn nun der eigentliche Organspender? „Das ist in Deutschland in den meisten Fällen eine Person über 50 Jahre, mit plötzlichem Schlaganfall oder Herztod“, sagt Sester.
Die Zahl der Organspender in Deutschland hat 2017 einen neuen Tiefpunkt erreicht. Nach Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation gab es nur 797 Spender, 60 weniger als im Vorjahr – und zudem der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Gleichzeitig warten bundesweit 10 000 Menschen auf ein lebensrettendes Organ. Nicht nur die Stiftung spricht von einer „dramatischen Entwicklung“. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz beklagt, dass die Politik das Thema vernachlässige. Angesichts von rund 10 000 Schwerstkranken auf der Warteliste müsse die (künftige) Bundesregierung dringend handeln.
Urban Sester bezeichnet die Situation als „Katastrophe“. Zwar hat sich die Spenderzahl im Saarland nicht verschlechtert. 16 Menschen spendeten im vergangenen Jahr nach ihrem Tod Organe, vier mehr als im Vorjahr. Trotzdem: Der allgemeine Trend alarmiert Sester. Zumal in kaum einem anderen Bereich so sehr das Sprichwort gelte: Des einen Freud’ ist des anderen Leid. Denn wer ein Organ spendet, muss eindeutig hirntot sein. Die Feststellung eines Herz-Kreislauf-Stillstands alleine genügt nicht für eine Entnahme. Sester: „Doch glücklicherweise für die Betroffenen sterben in Deutschland nicht mehr so viele Menschen an Unfällen. Die Autound Motorradunfälle sind zurückgegangen, wir haben eine Helmpflicht, eine Gurtpflicht und noch dazu eine schnelle, wirklich tolle Diagnostik, das heißt, es kann sofort festgestellt werden, wo die Verletzung liegt und wie man den Verletzten behandeln kann.“Das Makabere an der Geschichte: Je weniger Menschen bei Unfällen sterben, desto weniger Organe sind verfügbar.
Einen weiteren Grund für den Organspender-Rückgang sieht Sester in dem vor rund sechs Jahren hochgekochten Transplantationsskandal, „aber der ist abgearbeitet, es sind Verordnungen in Kraft gesetzt worden, das Vertrauen kommt langsam wieder.“Der dritte Punkt: Viele Menschen nähmen die Thematik Organspende einfach nicht zur Kenntnis. Und hier, sagt Sester, müsse man ansetzen.
Das Saarland sei hier auf einem guten Weg, Intensivmediziner und Fachärzte könnten sich in einer mehrtägigen Schulung zum Transplantationsbeauftragten ausbilden lassen. Was verbirgt sich hinter dem Mammut-Wort? „Das ist eine schwierige Aufgabe, die man mit viel Fingerspitzengefühl angehen muss“, betont Experte Sester, der früher selbst solche Gespräche geführt hat. Wer möchte schon Angehörigen, die durch den plötzlichen Tod ihres Verwandten unter Schock stehen, mit einem Gespräch über eine Organspende kommen? „Deshalb ist es gut, wenn sich jeder mal selbst Gedanken machen würde“, sagt Sester, „den kurzen, schmerzlichen Gedanken an sein eigenes Ende zulassen und einen Zettel hinterlegen oder mit den Angehörigen darüber sprechen.“Dann falle es gegenüber dem Arzt viel leichter, „im Sinne des Verstorbenen noch etwas für ihn und für andere zu tun“. Sei dies nicht der Fall, entstehe oft eine Konfliktsituation für die Angehörigen – soll man die Freigabe zur Organentnahme geben oder nicht? Was wäre im Sinne des Verstorbenen gewesen?
Sester zufolge ist es ganz wichtig, dass die Angehörigen Zeit hätten und sich keinesfalls bedrängt fühlten. Das sei Aufgabe des Transplantationsbeauftragten, der nur beratend zur Seite stehen dürfe, „um das Für und Wider abzuwägen und die Hinterbliebenen aufzuklären. Die Entscheidung bleibt natürlich allein denjenigen Menschen überlassen, die dem Verstorbenen nahe standen. Das Gespräch ist selbstverständlich ergebnisoffen.“Es gehe bei der Beratung auch um rechtliche Dinge, von der Feststellung des eindeutigen Hirntodes bis zum Ausfüllen der Einverständniserklärung zur Spende.
Es sei eine sehr private und intime Entscheidung im Angesicht des Todes. Wer sich nicht sicher sei, solle sich nicht gedrängt fühlen, einer Organspende zustimmen zu müssen. „Die unmittelbare und extreme Situation im Todesfall ist etwas ganz anderes als die Aufarbeitung des Verlustes nach ein paar Monaten“, sagt Urban Sester. Und er hat die Erfahrung gemacht, „dass es später für die Angehörigen sogar ein Trost sein kann, dass die Organe des Verstorbenen einem anderen Menschen das Leben retten konnten, dass der Tod nicht endgültig und sinnlos war“. Um diesen Trost und auch die Trauer zu teilen, habe sich in der Region Saarland/Rheinland-Pfalz eine Gruppe von Angehörigen von Organspendern gebildet.
Für Professor Urban Sester hat das Thema Organspende nicht nur eine praktische und ethische, sondern auch eine gesellschaftliche Seite. „Es geht um Organe, die die Gesellschaft, also wir alle, zur Verfügung stellen. Das zeigt unsere grundlegende Einstellung zu diesem Thema“, sagt der Mediziner. Wenn nur wenige Organe zur Verfügung gestellt würden, „dann sagt das auch viel über unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft aus“.
„Das sagt auch viel
über unsere Gesellschaft aus.“
Urban Sester,
Chef des Transplantationszentrums der Uniklinik Homburg, zum Rückgang der
Organspender-Zahlen