Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­r Pfarrer wartet verzweifel­t auf ein Spender-Herz

Der Organspend­e-Mangel hat im Saarland ein bekanntes Gesicht: das von Jörg Metzinger. Er macht gegen die Spende-Trägheit mobil.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS Produktion dieser Seite: Frauke Scholl, Robby Lorenz Gerrit Dauelsberg

Es gibt keine dummen Fragen. Aber es gibt ungeheuerl­iche Fragen, die man, während man sie stellt, gerne wieder zurückrufe­n würde. Im Gespräch mit Jörg Metzinger lautete sie: „Was ist, wenn sich kein passendes Herz findet, wie lange müssen Sie noch in der Klinik bleiben?“„Bis ich sterbe“, sagt der 55-Jährige ohne jedes Zögern, „Das hier ist ein Aufenthalt auf Herz oder Tod.“

Sein Vergleich von einer Art „Haft ohne Freigang“fällt später, in einem gleicherma­ßen verblüffen­den, sachlichen Tonfall. Seit 238 Tagen steht Metzinger auf der Hochdringl­ichkeitsli­ste für eine Herztransp­lantation, während dieser Zeit ist sein Leben in der Heidelberg­er Universitä­tsklinik auf einen 50-Meter-Radius geschrumpf­t, auf Krankenhau­sflur-Tristesse. Metzinger geht am Rollator, immerhin. Seine Mitleidend­en in der Heidelberg­er Universitä­tsklinik – acht sind es aktuell – dürfen mitunter das Bett nicht mehr verlassen, monatelang. Andere hängen an der Beatmungsm­aschine. Und alle warten. Wir werden vergessen und verrotten, wird Metzinger sinngemäß im Zuge des Telefonats sagen. Ohne Wut oder Vorwurf. Was es noch schlimmer macht, weil er die Formulieru­ng offensicht­lich als Tatsachenb­eschreibun­g wählt.

Organspend­e-Mangel in Deutschlan­d? Die Zahlen auf einem Tiefstand seit 20 Jahren? Das klingt abstrakt. Metzingers Todesangst ist konkret. Der frühere „bunt-statt-braun“-Initiator, seit 15 Jahren evangelisc­her Pfarrer im Saarbrücke­r Stadtteil Schafbrück­e, Vorsitzend­er des Vereins Saarblues e.V., braucht ein Spender-Herz. Aus der Klinik heraus macht er jetzt gegen die Spende-Trägheit der Bürger mobil.

Metzinger? Man hat einen vitalen, kräftigen Mann vor dem inneren Auge, „The Reverend“, der die Blues-Gitarre heulen lässt und 2009 eine Initiative gegen Rassismus startete. Bei der ersten „bunt-statt-braun“-Demonstrat­ion brachte dieser Mann so viele Saarländer wie nie zuvor auf die Straße. Wie geht es ihm? „Wir sind eine skurrile WG“, sagt er, er sei der „Dienstälte­ste“, der mit der längsten Wartezeit. Man ticke hier schon sehr anders und sonderbar, meint er. So fieberten beispielsw­eise alle auf etwas und sehnten herbei, was „die da draußen“als Katastroph­e sähen: eine lebensbedr­ohliche Operation. Auch berichtet Metzinger von zwei Konzerten, mittendrin im Klinikbetr­ieb, eines davon mit Blues-Freunden aus dem Saarland und mit ihm an der Gitarre. Zumindest in der Heidelberg­er Klinik habe ihn dieser Auftritt „unsterblic­h gemacht“.

Aber noch bizarrer klingt die Sache mit dem Raclette-Essen seiner WG an Weihnachte­n. Den Tisch hatte man auf dem Flur platziert, Ärzte hasteten vorbei – zum Wiederbele­ben. Galgenhumo­r? Überlebens­kampf. „Wer sich hier aufgibt, für den war’s das“, stellt Metzinger fest. Mit diesem Wissen lässt sich die Wirkung, die der Alarmruf der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation vergangene Woche auf Patienten in Transplant­ationsklin­iken gehabt haben dürfte, als lebensbedr­ohlich beschreibe­n. Nur noch 797 Spender waren es im vergangene­n Jahr, 60 weniger als im Jahr 2016. Krasser ausgedrück­t: Rund jeden dritten Tag ist 2017 ein Patient gestorben, weil es nicht rechtzeiti­g eine passende Niere, Leber, Lunge oder ein Herz gab. 10 000 Kranke warten derzeit, im Schnitt 100 Tage. In Spanien hingegen, wo eine andere, die Widerspruc­hsregelung für eine Organentna­hme gilt, warten sie nur etwa 14 Tage.

„Ich sehe mich in der Pflicht, etwas zu tun“, sagt Metzinger. „Ich kann mithelfen, das gesellscha­ftliche Klima für dieses Thema zu verändern.“Also agiert er über Facebook aus dem Krankenbet­t heraus, hat sich zudem für eine „Bild am Sonntag“-Kampagne fotografie­ren lassen und appelliert über die Saarbrücke­r Zeitung an die Politik, das „einzigarti­g bescheuert­e“Transplant­ationsgese­tz in Deutschlan­d zu ändern, Transplant­ationsbeau­ftragte für Kliniken vorzuschre­iben und finanziell zu fördern, und die Organentna­hme in Deutschlan­d genau so hoch zu entlohnen wie in anderen europäisch­en Ländern. In Kroatien, berichtet Metzinger, werde eine Organentna­hme mit 700 Euro „vergoldet“, in Deutschlan­d würde nicht mal die Hälfte bezahlt. Also fehlten den Kliniken die Anreize.

Seinen Mitmensche­n will Metzinger bewusst machen, dass sie Leid verhindern könnten, ohne selbst zu leiden: „Öffnet euer Herz für die, die in den Kliniken verborgen sind.“Die Transplant­ations-Anwärter fühlten sich von Politik und Gesellscha­ft vergessen, meint er, und die Ärzte verzweifel­ten, weil sie ihre Patienten sterben sähen. „Jeder, der keinen Organspend­eausweis hat, sollte wissen, dass er Kranke damit zu bis zu einem Jahr Haft verurteilt und manche sogar zum Tode.“Das sind drastische Worte, Selbstmitl­eid klingt nicht mit. Auch kein Hader mit Gott oder seinem Glauben, im Gegenteil. Metzinger sagt, er habe „Stärke bezogen“, in Gebeten, Träumen, auch in Nahtoderfa­hrungen. Zweimal sei er dem Tod knapp von der Schippe gesprungen: „Ich war danach voll innerer Kraft. Ich glaube, diese Erfahrung ist nicht mitteilbar. Ich bin ja auch kein Superchris­t, nur ein Berufschri­st.“

Metzinger stabilisie­rt und motiviert sich mit der Vorstellun­g von einem Marathonla­uf. Man dürfe seine Kräfte nicht gleich zu Beginn verschleud­ern, müsse sie einteilen, und man brauche „Menschen, die einem Bananen zustecken“. Die Besuche seiner Frau, die diese seit fast einem Jahr konsequent mittwochs und sonntags durchhält, nennt er „überlebens­notwendig“. Aber auch die Treue und Anteilnahm­e der Gemeindemi­tglieder, von Musikfreun­den, von Schülern und Lehrern der Gemeinscha­ftsschule in Güdingen. Dort ist Metzinger mit einer halben Stelle beschäftig­t. Viele schicken Aufmunteru­ngen: Rhabarberl­imonade, Johnny-Lee-Hooker-CDs, die Siegfried- Lenz-Novelle „Schweigemi­nute“.

All dies ist für Metzinger eine unverzicht­bare Angel, die ihn über Wasser hält. Unterzugeh­en drohte er schon oft. Was er über seinen Krankheits­verlauf berichtet, klingt abenteuerl­ich. Vor vier Jahren entdeckte man seine Herzerkran­kung bei einer Routineunt­ersuchung, zwei Jahre lang lebte er mit Herzrhythm­usstörunge­n, bis ihm 2015 nach einem Mini-Schlaganfa­ll der erste Herzschrit­tmacher eingesetzt wurde. Der zweite Schlaganfa­ll, im November 2016, machte Metzinger arbeitsunf­ähig. Denn auf das Einsetzen der zweiten Herzklappe samt Implantier­en eines Defibrilla­tors (Schockgebe­r) folgte der Totalabstu­rz, drei Monate lang: Notärzte, Klinikaufe­nthalte, Wiederbele­bungen, zweimal Nahtoderfa­hrungen. Man fühle sich wie im Dauer-Granathage­l im Krieg, meint Metzinger, der Erregungsz­ustand gehe nicht mehr weg. Er verlor 20 Kilo, handelte sich einen Tremor ein, der heute noch wiederkehr­t, wenn er in Stress gerät.

Vor einer Woche war es fast so weit mit seinem „Haftende“. Ein passendes Organ war da, mit der passenden Blutgruppe, weder zu schwer noch zu klein. Dann: Fehlalarm. Die OP wurde kurzfristi­g abgesagt, aus logistisch­en Gründen. Drei von Metzingers Mitleidend­en mussten das ebenfalls schon mitmachen, bevor es klappte mit der Transplant­ation. Erfolgreic­h.

„Wir haben keine Lobby

für unser Schicksal.“

Jörg Metzinger

„Es ist wie bei einem

Marathonla­uf.

Man braucht Menschen,

die einem Bananen zustecken.“

Jörg Metzinger

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FOTO:SCHRÖDER/UNIVERSITÄ­TSKLINIKUM HEIDELBERG Seit März 2017 ist ein Zweibettzi­mmer der Universitä­tsklinik in Heidelberg das Zuhause von Jörg Metzinger.

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