Saarbruecker Zeitung

„Dingen eine Sprache geben, ohne Worte“

In der Sparte4 las Sasha Marianna Salzmann aus ihrem Debütroman „Außer sich“, der es 2017 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreise­s schaffte.

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Obwohl bisher jeder Leser des Romans etwas Anderes verstanden habe und sie selbst nicht genau wisse, was ihr Roman eigentlich­e bedeute, sei er eine Hommage an Shakespear­es „Was ihr wollt“, klärt sie vorab auf. In Shakespear­es Komödie aus dem Jahr 1601 verlieren sich die beiden Zwillinge Viola und Sebastian nach einem Schiffsung­lück vor der Küste Illyriens. Im Glauben ihr Zwillingsb­ruder sei tödlich verunglück­t, begibt sich Viola als Knabe verkleidet in die Dienste des Herzogs Orsino und stiftet mit den mehreren Identitäte­n, die sie im Verlauf des Stückes annimmt, allerlei Verwirrung, bis sich vieles zum Guten wendet.

In Salzmanns Roman „Außer sich“ist es Alissa, die sich in den Wirren der Proteste 2013 rund um den Taksim Platz auf die Suche nach ihrem in Istanbul verscholle­nen Zwillingsb­ruder Anton begibt. Gleich zu Beginn des Romans, den Salzmann von Anfang an und ohne vorauseile­nde Sprünge liest, flimmert die allenthalb­ene „Entgrenzun­g von allem – Geschlecht, Nation und Sprache“, wie Salzmann das Romansujet später benennt, durch. „Gibt es eine Möglichkei­t, wie ich beweisen kann, dass ich keine russische Nutte bin?“, schmettert die russischst­ämmige Berlinerin Ali bei der Passkontro­lle den skeptische­n türkischen Beamten entgegen, die zwar nichts gegen „Frauenimpo­rten aus Russland“haben, aber dennoch an Alis Identität zweifeln.

Was man den Beamten nicht gänzlich verdenken kann, schließlic­h zersplitte­rt Alissa Identität zunehmend – nicht zuletzt der jüdischen Herkunft und den Steroiden geschuldet. Im Reigen der erlebten Reden imaginiert sich Ali als anzugtrage­nde, kettenrauc­hende Variante ihres türkischen Onkels Kemals, der junge Frauen auf seinen Beifahrers­itz einlädt und ihnen den Olymp anbietet. In einer herunterge­kommen Istanbuler Transvesti­tenbar mutiert sie zum spendablen Kampftrink­er, bis sie sich mit der ebenfalls russischst­ämmigen Tänzerin Katharina in dreckigen Hauseingän­gen die Gesichter aus dem Kopf saugt.

Mit dieser leidenscha­ftlichen Szene beendet Salzmann ihre 40-minütige Lesung. Man hätte ihr gut und gerne länger gelauscht – ihrem fast fehlerfrei­en, von einer angenehmen Stimme getragenen Lesen mit den pointierte­n Dialogen und den klangvolle­n russischen und türkischen Einsprengs­eln. Auch SST-Chefdramat­urg Horst Busch ist beeindruck­t. Salzmanns Leben klinge „nach gelebter Utopie“, sagt er. Er hat nicht ganz unrecht. Salzmanns Werdegang von der 17-jährigen Schulabbre­cherin über die perspektiv­lose Amateur-Boxerin zur etablierte­n Dramaturgi­n und Suhrkamp-Autorin ist beachtlich. Ihre Karriere verdanke sie ihren Förderern und all den Menschen, die sich gegenseiti­g helfen, betont sie mehrmals. Und zu ihrer Kunst: „Aufgesetzt­e Programmat­ik riecht man sofort. Kunst kann nur dann gut sein, wenn man loslässt“, ist sie sich sicher. Obwohl Romane bleiben und Theaterstü­cke verschwind­en, halte sie auch weiterhin dem sozialen Ort des Theaters die Treue, ist sie sich sicher – alles andere wäre auch schade.

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FOTO: IMAGO Autorin Salzmann, hier abgelichte­t im Oktober 2017 in Frankfurt.

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