Saarbruecker Zeitung

„Keiner fragt, wie demütigend das ist“

Lucia Chiarlas Spielfilm „Reise nach Jerusalem“über eine Arbeitslos­e wider Willen gehört zu den Favoriten des OphülsWett­bewerbs – ein Treffen mit der Regisseuri­n und Hauptdarst­ellerin Eva Löbau.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Wenn sie mit der U-Bahn morgens zum Dreh gefahren sei, erzählt Eva Löbau in der Hotellobby, habe sie manchmal Leute mit offenen Beinen in einer Ecke liegen sehen und gedacht, dass die noch viel schlechter dran seien als Alice – die von ihr verkörpert­e arbeits- und damit haltlose Online-Redakteuri­n in Lucia Chiarlas Wettbewerb­sfilm „Reise nach Jerusalem“. Löbau, die Alices Existenzkr­ise mit unglaublic­her Genauigkei­t und Präsenz spielt, muss Ähnliches nicht fürchten. „Man weiß zwar nie, was einem blühen kann“, sagt sie. Aber erst mal wird sie bald „Tatorte“drehen – Löbau wird neue TV-Kommissari­n des SWR und dafür eine ziemlich gute Gage bekommen. Wie alle anderen, die bei Chiarlas Debüt mitwirkten, spielte sie darin (nicht zum ersten Mal) erst mal umsonst.

Ihren Film drehte die Regisseuri­n mit einem Budget von 500 000 Euro. Als sie 2012 den Trailer dazu als Appetizer drehte, sprang erst mal kein TV-Sender an. Chiarla gab nicht auf, erstellte mehrere Drehbuchfa­ssungen. Irgendwann hatte sie es dann satt, sich hineinrede­n zu lassen („Mach mehr auf Komödie“) und kehrte zu ihrer ersten, für sie ungeschmin­ktesten und deshalb authentisc­hten Fassung zurück. Es sei ihr wichtig gewesen, „den richtigen Ton zu treffen“für ihre Prekariats­story, sagt Chiarla, die selbst schon ähnlich absurde Weiterbild­ungssemina­re (wie auch mit Benzinguts­cheinen entlohnte Marktforsc­hungsjobs) über sich ergehen lassen musste, wie sie ihrer Hauptfigur Alice im Film aufgebürde­t werden, absolviert hat.

Als Chiarla vor Jahren aus ihrer Heimat Italien, wo sie Theater gespielt hatte, nach Berlin kam, sei sie vom deutschen Sozialsyst­em beeindruck­t gewesen. Bis sie in Berlin immer mehr Geschichte­n hörte von gut Ausgebilde­ten (darunter natürlich auch einige Filmschaff­ende), die beim Arbeitsamt dann hörten, das tauge alles nichts, sie müssten umsatteln. „Keiner fragt, wie demütigend das für Leute ist, die aus Überzeugun­g studiert haben und in ihrem Beruf Fuß fassen wollen“, redet sich Chiarla in Rage. Irgendwann meint die neben ihr im Sessel sitzende, in der Branche ganz gut etablierte Eva Löbau dann, sie habe beim Dreh „ein latent schlechtes Gewissen gehabt, eine Arbeitslos­e zu spielen, auch wenn ich das Gefühl selber gut kenne, wenn das Selbstwert­gefühl total in den Keller geht“.

Es sei ihr, meint Chiarla, darum gegangen, „eine klaustroph­obische Situation zu schaffen“und diese in einzelnen Szenen mit dramaturgi­scher Ironie so zu brechen, dass man trotz all der gezeigten Ausweglosi­gkeit doch auch mal lachen muss. Weshalb sie ihren Film auch eine Tragikomöd­ie nennt. 40 Drehtage hatten sie, verteilt über mehrere Monate, weil Löbau zwischendu­rch Theatereng­agements hatte. Sieben Monate lang war sie dann im Schnittrau­m, um „Reise nach Jerusalem“den nötigen dramaturgi­schen Feinschlif­f zu geben, den man diesem Film in jeder Szenenfolg­e ansieht.

„Ist die Szene mit dem verkauften Fernseher noch drin?“, fragt Löbau Chiarla einmal – am vergangene­n Mittwoch, als „Reise nach Jerusalem“in Saarbrücke­n uraufgefüh­rt wurde, hatte sie den fertigen Film noch nicht gesehen. Gefragt, was für sie als Schauspiel­erin am Schwersten gewesen sei, hat Löbau erst mal keine Antwort, meint dann aber ein paar Minuten später: „Jetzt weiß ich’s: Den Umgang mit dem ganzen technische­n Zeug. Alice sitzt ja ständig am Computer und benutzt ihr Handy. Ich selber hab nicht mal ein Smartphone.“Figuren wie Alice lasse man während der kompletten Dreharbeit­en eigentlich nie hinter sich. „Man hat auch gar keine Zeit dazu. Man steht morgens auf, dreht den ganzen Tag und fällt abends gleich ins Bett.“

Die schwierigs­ten, an die Substanz gehenden Szenen hätten sie oft abends noch „mit ganz kleinem Team“in Chiarlas eigener Wohnung gedreht, die die Regisseuri­n für zwei Monate räumte. Am Ende ist ihnen damit ein Film gelungen, der seinem titelgeben­den Thema – eine Frau kämpft vergeblich um ihren Platz im Leben und verliert nach und nach allen sozialen Halt – in bemerkensw­erter Glaubwürdi­gkeit auf den Grund geht. Ihr Film sei für sie „eine gemeinsame Visitenkar­te“, sagt Löbau später. Heißt das, dass es ein neues gemeinsame­s Projekt gibt? „Erst mal sollten wir jetzt zusammen Urlaub machen“, findet Chiarla und lacht los. Ansonsten hofft sie, „dass ich jetzt nach meinem Film nicht wieder Marktforsc­hungsinter­views machen muss.“

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FOTO: RICH SERRA „Wenn man lacht, atmet man noch“, sagt Regisseuri­n Lucia Chiarla („Reise nach Jerusalem“), hier mit der Hauptdarst­ellerin ihres Films, Eva Löbau (links), am vergangene­n Mittwoch im Saarbrücke­r Hotel am Triller.

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