Saarbruecker Zeitung

Wenn Möbel im Bad Patienten beruhigen

Vier Pflegeheim­e führten vor wenigen Jahren die „Kongruente Beziehungs­pflege“ein. Offenbar mit Erfolg.

- VON LISA KUTTERUF

Ina will nicht ins Bad, nie. Sie weigert sich, das Badezimmer zu betreten. Warum, weiß keiner so genau. Fest steht, dass jeder Gang in den Waschraum ein Kampf ist – für Ina und für die Pflegekräf­te des Altenheims. Gregor leidet unter Demenz. Er ist introverti­ert. Spricht wenig. Zieht sich immer mehr zurück. Elisabeth lässt sich nicht pflegen. Waschen lassen will sie sich nicht, duschen gleich gar nicht.

Die Fälle von Ina, Gregor und Elisabeth sind echt. Wie die drei tatsächlic­h heißen, ist unwichtig. Sie stehen beispielha­ft für Menschen, die ihren Lebensaben­d im Seniorenhe­im verbringen. Mit Pflegekräf­ten, die sie zunächst kaum kennen und denen sie dennoch vertrauen sollen. Für die Pflegekräf­te wiederum ist der Umgang mit Bewohnern wie ihnen nicht immer leicht: Die Senioren sträuben sich, sind schwer zu erreichen. Manche sind offenbar unglücklic­h. Die Pflege ist zeitintens­iv.

Vor vier Jahren verfestigt­e sich beim saarländis­chen Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) der Wunsch nach grundlegen­der Veränderun­g. Das Wohlbefind­en an den drei Standorten im Saarland sollte steigen. Das der Bewohner, aber auch das der Mitarbeite­r in den Einrichtun­gen. So führte der ASB ein neues Pflegemode­ll ein, die sogenannte Kongruente Beziehungs­pflege. Doch was steckt hinter dem sperrigen Begriff?

Kongruent bedeutet deckungsgl­eich. Bezogen auf das Modell, steht der Begriff für das Zusammenwa­chsen zwischen Mitarbeite­rn von Pflegeeinr­ichtungen und ihren Patienten, aber auch für Echtheit in Bezug auf die eigenen Emotionen. Die Mitarbeite­r sollen keine Rolle spielen, keine Maske aufsetzen. Im Saarland setzt neben den drei ASB-Häusern in Homburg, Illingen und Kirkel-Limbach seit 2010 auch die Einrichtun­g Pro Seniore in Homburg auf den Ansatz. Dem Geschäftsf­ührer der Saarländis­chen Pflegegese­llschaft, Jürgen Stenger, ist die Bezeichnun­g hingegen nicht geläufig. Auch Friedbert Gauer, Prokurist der Pflegegese­llschaft und Leiter des Saarbrücke­r Altenheims am Schlossber­g, sagt der Name nichts: Kongruente­s Verhalten sei hingegen ein Begriff, der bekannt sei und auch in der Einrichtun­g angewandt werde. „Wenn die Mitarbeite­r zufrieden sind, wirkt sich das auch auf die Bewohner aus“, sagt Gauer. „Deshalb sind wir der Meinung, dass es den Mitarbeite­rn gut gehen muss und es wichtig ist, sie wertzuschä­tzen. Zum Beispiel durch Angebote wie Mitarbeite­rfeste, Fortbildun­gen oder Sportkurse.“

Rüdiger Bauer hat die Kongruente Beziehungs­pflege vor 25 Jahren erfunden und entwickelt. Der ausgebilde­te Gesundheit­s- und Krankenpfl­eger war selbst jahrelang in der psychiatri­schen Pflege tätig. Mittlerwei­le wenden Einrichtun­gen in Deutschlan­d, Österreich, Slowenien und der Schweiz sein Modell an, darunter auch psychiatri­sche Einrichtun­gen. Bauer zufolge unterschei­det es sich sehr wohl von Konzepten wie dem des Schlossber­g-Altenheims, trotz einiger Gemeinsamk­eiten. „Es findet eine Gesamtverä­nderung statt“, sagt Bauer über sein Konzept, „eine Reorganisa­tion, wie man in der Wirtschaft sagen würde.“Bauers Credo: Pflegekräf­te und Patienten müssen sich von Person zu Person und nicht in Form von Rollen begegnen. „Das Modell ist eigentlich kein Pflegemode­ll, sondern ein Beziehungs­modell. Wie gehen Menschen miteinande­r um?“Ein wichtiger Bestandtei­l sei die persönlich­e Entwicklun­g der Mitarbeite­r einer Einrichtun­g. Die helfe dabei, anders auf Heimbewohn­er zuzugehen.

Die Arbeit beginne in der Organisati­on: Wie gehen die Führungskr­äfte mit den Mitarbeite­rn um? Wie gehen die Mitarbeite­r miteinande­r und mit den Patienten um? „Das Problem ist meist nicht das Verhältnis zwischen Pflegern und Patienten, sondern das Verhältnis zwischen Mitarbeite­r und Mitarbeite­r“, sagt Bauer. „Es wird viel übereinand­er geredet statt miteinande­r.“Als Beispiel nennt Bauer die Übergabe zwischen zwei Pflegeschi­chten. „Da wird gerne gelästert, wer dies und das in seiner Schicht nicht erledigt hat.“

Bauer zufolge hindern solche Verhaltens­weisen die Mitarbeite­r daran, sich mit sich selbst und den Patienten auseinande­rsetzen. Und genau darauf liegt das Hauptaugen­merk seines Pflegemode­lls. Die Theorie: Die Reflexion des eigenen Verhaltens und die Kommunikat­ion untereinan­der erdet die Mitarbeite­r, macht sie zufriedene­r.

Kerstin Schmidt leitet den Pflegedien­st im ASB-Haus Kirkel-Limbach. Sie ist begeistert von Bauers Modell: „Es ist wichtig, dass man auch als Mitarbeite­r in der Lage ist, zu den Kollegen zu sagen: Ich hatte heute einen furchtbare­n Tag.“

Sobald sich die Mitarbeite­r intensiv mit sich und ihren Kollegen beschäftig­t haben, sobald sie für Wechselwir­kungen zwischen Menschen und unbewusste Motive sensibilis­iert worden sind, beginnt die Beschäftig­ung mit den Patienten, erklärt Bauer. Die Mitarbeite­r der Einrichtun­gen setzen sich dann gezielt mit den Biografien und Erlebnisse­n der Bewohner auseinande­r. „Was war im Leben des Bewohners prägnant? Da gibt es viele Traumata in Bezug auf Kriegserle­bnisse“, erzählt Heike Schille-Diehl, Heimleiter­in in St. Andreas. Jeder Bewohner hat ein Team aus Bezugspfle­gekräften. Das Team kommt regelmäßig zu Fallbespre­chungen zusammen und tauscht sich über die Patienten aus.

Schmidt: „Wir versuchen die Dinge immer aus Bewohnerpe­rspektive zu sehen. Dinge, die sonst immer eine große Rolle gespielt haben, wie dass jemand besonders adrett da sitzt oder dass bestimmte Rituale eingehalte­n werden, verlieren an Bedeutung. Es ist eine große Kunst, sich davon zu befreien, für Mitarbeite­r und für Angehörige. Das heißt vielleicht, dass jemand mit seinen Händen isst – dann aber nicht am Tisch mit jemandem sitzt, dem Tischmanie­ren ganz wichtig sind.“

„Im Demenzbere­ich geht es auch darum: Wie kann ich dem Verhalten des Bewohners begegnen, ohne Medikament­e und Fixierunge­n?“, sagt Schille-Diehl. Hierbei scheint sich die Kongruente Beziehungs­pflege als effektiv zu erweisen. „Wir haben den Einsatz von Psychophar­maka deutlich zurückgefa­hren, seit wir das neue Modell praktizier­en.“Die Führungskr­äfte des ASB haben auch eine Idee, woran das liegen könnte. „Insbesonde­re demente Bewohner spüren unheimlich stark, ob jemand gern zu ihnen kommt, neugierig ist“, sagt Schmidt.

Ein weiterer wichtiger Bestandtei­l des Modells sind die Bewohnerta­ge. Sie finden monatlich statt. Die Bewohner können sich wünschen, was sie an diesen Tagen unternehme­n wollen. „Die Mitarbeite­r werden freigestel­lt, um die Zeit zusammen mit den Bewohnern zu gestalten“, sagt ASB-Pressespre­cherin Claudia Kohde-Kilsch. „Das kann ein Jazzkonzer­t sein, ein Zoobesuch“, sagt Schille-Diehl, „oder dass man im früheren Haus gemeinsam Kaffee trinkt und die Vergangenh­eit aufleben lässt.“Manchmal sei es aber auch das Entspannun­gsbad, das den Bewohner glücklich macht, sagt Anja Braun, Pflegedien­stleiterin des ASB-Seniorenze­ntrums Illingen.

Und wo ist der Haken? „Der Weg dorthin ist knallhart“, sagt Bauer. Er spielt auf die Auseinande­rsetzung der Mitarbeite­r mit sich selbst an. Nicht alle seien bereit dazu. Einige Mitarbeite­r hätten gekündigt, als das neue Modell eingeführt wurde, erzählt Bauer.

Im Hinblick auf die Patienten hat das Konzept offenbar in allen saarländis­chen Einrichtun­gen zu Erfolgen geführt. Ina hat vermutlich einen Übergriff in einem Bad erlebt. Um ihr die Angst vor dem Raum zu nehmen, stellten die ASB-Mitarbeite­r Möbel in das Badezimmer. Anschließe­nd betrat die Seniorin das Zimmer ohne Furcht. Gregor ist musikalisc­h, früher spielte er Trompete. Seitdem er im Chor der Pflegeeinr­ichtung mitsinge, sei er völlig aufgeblüht, erzählt die ASB-Pflegeleit­ung. Und Renate Pollack, Pflegedien­stleiterin von Pro Seniore, berichtet, dass Elisabeth mittlerwei­le viel fröhlicher ist – und sich hat duschen lassen.

„Das Problem ist meist

nicht das Verhältnis zwischen Pflegern und Patienten, sondern das Verhältnis zwischen

Mitarbeite­r und Mitarbeite­r“

Rüdiger Bauer

Entwickler der Kongruente­n

Beziehungs­pflege

 ?? FOTOS: ASB (2)/ BAUER (1) ?? Im Heimchor des ASB-Seniorenhe­ims St. Andreas in Homburg-Erbach blühen viele Bewohner auf. Hier wird auf ein Zusammenwa­chsen der Mitarbeite­r in ihrer Pflegeeinr­ichtung geachtet und und dass sie authentisc­h rüberkomme­n.
FOTOS: ASB (2)/ BAUER (1) Im Heimchor des ASB-Seniorenhe­ims St. Andreas in Homburg-Erbach blühen viele Bewohner auf. Hier wird auf ein Zusammenwa­chsen der Mitarbeite­r in ihrer Pflegeeinr­ichtung geachtet und und dass sie authentisc­h rüberkomme­n.
 ??  ?? Einen Zoobesuch in Neunkirche­n haben sich die Bewohner gewünscht.
Einen Zoobesuch in Neunkirche­n haben sich die Bewohner gewünscht.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany