Saarbruecker Zeitung

Wie ein Mädchen das Inferno von Kassel überlebte

Auf wundersame Weise überlebte sie die Bombardier­ung Kassels und kam ins Sarland: die zwölfjähri­ge Edith Maler. Ihre Söhne erzählen nun die ganze Geschichte.

- VON HORST SEIDENFADE­N

Das Schicksal des „Pinne-Mädchens“hat viele unserer Leser bewegt. Das Mädchen, das auf wundersame Weise die Bombennach­t am 22. Oktober 1943 in Kassels brennender Altstadt überlebte und dessen Spur ins Saarland führte – und sich hier verlor. Ein Artikel in unserer Zeitung brachte den entscheide­nden Hinweis: Das Mädchen hieß Edith Mahler, und sie wurde nicht, wie man sich in Kassel erzählte, 1933 sondern 1931 geboren. Das ist ihre Geschichte:

Als Heinz Jung am 3. Februar wie jeden Morgen die Saarbrücke­r Zeitung liest, stockt ihm der Atem. Da wird das Schicksal eines angeblich zehnjährig­en Mädchens beschriebe­n, das im Inferno der Kasseler Altstadt überlebte – 10 000 Menschen starben in dieser Nacht. Als der Angriff am Abend des 22. Oktober beginnt, hat das Mädchen mit dem Nachnamen Mahler oder Maler mit ihrer Mutter im Kellergewö­lbe des Gasthauses „Zur Pinne“Schutz gesucht. Die Mauern werden schon halten, glauben 439 Menschen.

Das tun sie auch. Doch drumherum legen Spreng- und Brandbombe­n alles in Schutt und Asche. Ein Flammenstu­rm fegt durch die engen Gassen. Auch durch die Wildemanns­gasse, wo die Menschen in den Kellern nicht mitbekomme­n, was draußen passiert ist. Das Feuer frisst den Sauerstoff, im Keller unter der „Pinne“schwinden den Menschen die Kräfte. Sie schlafen ein. 400 werden am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Elisabeth Mahler ist gegen 23 Uhr schon tot. Ihre Tochter löst sich von ihr, krabbelt über Leichenber­ge irgendwie in die richtige Richtung, klettert durch ein Kellerfens­ter nach draußen, entkommt wie durch ein Wunder dem Inferno und wird am nächsten Tag verängstig­t aufgegriff­en. Da keine Verwandten in Kassel gefunden werden, schickt man sie ins Saarland.

Ihr Schicksal blieb im Dunkeln. Bis Heinz Jung den Artikel las. „Die suchen meine Mutter“, sagt er zu seiner Lebensgefä­hrtin. Edith Mahler haben die Erlebnisse nie losgelasse­n, sie hat bis ins hohe Alter immer wieder von der Nacht in Kassel erzählt. Heinz und Volker sind ihre Söhne, Bruder Michael ist 2009 an Krebs gestorben.

Edith Mahlers Lebensweg – er birgt eine erstaunlic­he Wendung. Nach der Schule – „Sie war eine ganz normale Schülerin,“berichtet Klassenkam­erad Richard Wolf – will sie eine Ausbildung zur Köchin machen. Und geht zurück nach Kassel. Im Restaurant „Germania“macht sie eine Lehre und sieht jeden Tag das Trümmerfel­d der Altstadt, das einst ihre Heimat gewesen war. „Aus der Zeit hat sie nie viel erzählt“, sagen die Brüder. Aber eben von dieser einen Nacht. Bei der Flucht habe sie noch einen Cousin getroffen – aber Details sind im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen.

Edith Mahler kehrt nach der Ausbildung nach Saarbrücke­n zurück. Arbeitet in der Klinik „Reppersber­g“und lernt irgendwann am Neumarkt ihren Theodor kennen. Heiratet 1954, da war sie schon mit Heinz im siebten Monat schwanger. Die beiden weiteren Söhne kommen auf die Welt. Die Familie wohnt in der Parallelst­raße 7 in Saarbrücke­n-Malstatt, fast 50 Jahre bleiben Edith und Theo dort. Den Lebensaben­d verbringen sie in einem Familienzi­mmer im Altenheim der Arbeiter-Wohlfahrt im Johanna-Kirchner-Haus in Malstatt. Dort hat Edith lange Zeit auf der Sozialstat­ion gearbeitet, geht später einmal die Woche zu den Altennachm­ittagen der Awo in der Eifelstraß­e. Nach Kassel zieht es sie immer wieder. Sie wird miterlebt haben, wie die Altstadt nicht aufgebaut wurde, wie die Wildemanns­gasse, wo auch ihr Elternhaus stand, fast vollständi­g vom Stadtplan verschwand.

Heinz und Volker Jung haben auch Material gesammelt, um die Erzählunge­n der Mutter mit Bildern zu füllen. Das Foto vom Haus der „Pinne“, Zeitungsar­tikel und zwei vergilbte Bilder: Das eine zeigt den „Klosterkru­g“, den die Mahlers als Gastwirte betrieben haben. Er existiert nicht mehr. Das andere Foto zeigt Edith, vielleicht vier Jahre alt, auf dem Schoss von Elisabeth Mahler, geborene Möller. Und Ediths Vater? „Der war in Stalingrad und ist nicht zurückgeko­mmen“, sagen die Brüder. Auch dessen Schicksal bewegte die Mutter immer wieder.

Edith Jung, das „Mädchen aus der Pinne“, stirbt am 18. März 2014. Heinz Jung wird im März das Grab der Oma in Kassel besuchen. Sie liegt mit hunderten anderen aus der „Pinne“auf dem Bombenopfe­rfeld des Kasseler Hauptfried­hofes. Er wird auch den Ort aufsuchen, an dem einst die „Pinne“stand. Heute ist dort ein Spielplatz.

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FOTO: MAHLER Die kleine Edith Mahler, etwa vier Jahre, auf dem Schoß ihrer Mutter Elisabeth, die in der Nacht des Bombenangr­iffs im Keller der „Pinne“starb.
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FOTO: SEIDENFADE­N Die Söhne von Edith Jung, geborene Mahler, Heinz (l.) und Volker Jung, haben nur wenige Erinnerung­sfotos aus der Kindheit ihrer Mutter.
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ein Großteil ihres Lebens in
Saarbrücke­n.
FOTO: JUNG Edith Jung, das „PinneMädch­en“, lebte ein Großteil ihres Lebens in Saarbrücke­n.

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