Saarbruecker Zeitung

Wieso konnte ein Pfleger so lange morden?

Niels Högel soll in zwei Kliniken in Delmenhors­t und Oldenburg über 100 Patienten getötet haben. Die Angehörige­n der Opfer verlangen nach Aufklärung.

- VON IRENA GÜTTEL

(dpa) Wenn Christian Marbach das Grab seines ermordeten Großvaters besucht, kommt er ganz nah am Tatort vorbei. Nur fünf Minuten zu Fuß entfernt, zwischen den winterkahl­en Bäumen weithin sichtbar, liegen die roten Backsteing­ebäude des Delmenhors­ter Krankenhau­ses. Ärzte und Pfleger kümmern sich um kranke Männer, Frauen und Kinder, geben Medikament­e und retten Leben. Auch Marbachs 78-jähriger Großvater hoffte hier auf Hilfe – und wurde umgebracht. Von einem Mann, der ihn gesund pflegen sollte: von Niels Högel.

Heute, 15 Jahre später, spricht der Enkel ruhig und offen über die erschütter­nden Details. Darüber, dass sein Großvater eines der Opfer in einer unfassbare­n Mordserie ist. Der 47-Jährige arbeitet bei einer großen Bank. Er ist ein Mann der Zahlen und Fakten. Doch man spürt, dass ihn die Geschichte weiter aufwühlt. Mehr als 100 Patienten soll Niels Högel, so sind die Ermittler sicher, als Krankenpfl­eger in rund fünf Jahren getötet haben: erst im nahen Oldenburg, dann in Delmenhors­t.

Wegen des Todes von Marbachs Großvater und fünf anderen Patienten in der 82 000-Einwohner-Stadt stand Högel bereits in zwei Verfahren vor Gericht. Er sitzt lebenslang im Gefängnis. Doch Christian Marbach bewegen noch viele Fragen. Die Aufklärung der Mordserie kam nur zögerlich voran. Der größte Prozess, in dem es um 97 Tote geht, soll erst im Herbst starten. „Das eine ist der Mordprozes­s gegen den Täter. Das andere ist die Frage, wie kann das in einem Krankenhau­s passieren?“, sagt Marbach.

Wegen einer Operation kam Marbachs Großvater im Herbst 2003 ins Klinikum im niedersäch­sischen Delmenhors­t unweit von Bremen. „Das war unser Krankenhau­s“, berichtet der 47-Jährige. „Wir sind dort alle geboren.“Zwei Wochen später, der Operierte sollte bald entlassen werden, klingelte bei den Marbachs nachts das Telefon. Ein Pfleger musste den alten Mann wiederbele­ben. Am Tag darauf wirkte der Patient verstört. „Er hatte massiv Angst. Er hat gespürt, dass jemand an ihm herummanip­uliert“, erzählt Marbach. Doch die Familie deutete das falsch: Sie hielt es nicht für möglich, dass jemand im Krankenhau­s Wehrlose tötet. „Das ist für uns heute sehr schwer zu verarbeite­n.“

Zwei Tage danach musste der Großvater erneut reanimiert werden. Diesmal scheiterte es. Die Familie ging von einem Behandlung­sfehler aus. Heute wissen die Angehörige­n: Niels Högel spritzte dem alten Mann ein Medikament, das tödliche Nebenwirku­ngen hatte. Das machte er wieder und wieder, wahllos suchte er seine Opfer aus. Vor Gericht sagte der Ex-Pfleger später, dass er es aus Langeweile tat und um vor Kollegen mit seinen Wiederbele­bungskünst­en zu glänzen. Obwohl Kollegen Verdacht schöpften, stoppte ihn lange niemand.

Erst im Sommer 2005 flog Högel auf: Eine Krankensch­wester ertappte den Pfleger, als er einem Patienten eine Überdosis spritzte. Sogar da reagierten Vorgesetzt­e und Kollegen nicht sofort. Erst ein paar Tage später gingen sie zur Polizei. So konnte Högel noch einen kranken Menschen töten, wie die Ermittler heute wissen. Sechs Klinikmita­rbeiter hat die Staatsanwa­ltschaft inzwischen wegen Tötung durch Unterlasse­n angeklagt. Zwei damalige Oberärzte und eine weitere Führungskr­aft in Delmenhors­t müssen sich demnächst vor Gericht verantwort­en. Bei drei Pflegekräf­ten ist noch offen, ob es zum Prozess kommt.

Der ärztliche Direktor des Delmenhors­ter Josef-Hospitals, Frank Starp, kam erst nach der Mordserie an die Klinik. Er spricht von einem tragischen Einzelfall, aus dem man gelernt habe. Das Krankenhau­s hat ein sogenannte­s Whistleblo­wing-System eingeführt: Mitarbeite­r können darüber anonym Auffälligk­eiten melden. Außerdem untersucht ein externer Rechtsmedi­ziner alle Patienten, die in dem Krankenhau­s sterben. „Diese Maßnahmen haben vor allem abschrecke­nden Charakter und sind ein Sicherheit­snetz, durch das künftig sehr früh die Alarmglock­en schrillen würden“, sagt Starp. Und sie sollen verlorenes Vertrauen wiederhers­tellen. Das Josef-Hospital steckt tief in den roten Zahlen, nicht nur, aber auch weil Patienten wegen der Morde wegbleiben.

Der Psychiater Karl H. Beine hat sich mit vielen Mordserien an Kliniken beschäftig­t. Die von Niels Högel hält er für internatio­nal herausrage­nd – nicht nur wegen der Opferzahl. „In den Kliniken Oldenburg und Delmenhors­t haben alle Kontrollme­chanismen versagt. Dazu wurden die von Angehörige­n gemeldeten Verdachtsf­älle von der Justiz sehr schleppend bearbeitet“, sagt er. Die Opferfamil­ien mussten oft Jahre auf die Prozesse warten.

Die Mordserie begann wohl im Februar 2000. Da soll Niels Högel am Klinikum Oldenburg zum ersten Mal einen Patienten getötet haben. Auch dort ermittelt die Polizei gegen Mitarbeite­r. Demnach gab es schon damals Hinweise darauf, dass ungewöhnli­ch viele Patienten während der Schichten von Högel starben oder wiederbele­bt werden mussten. Das Klinikum versetzte den Pfleger erst auf eine andere Station. Schließlic­h lobte sie ihn mit einem guten Zeugnis weg. In Delmenhors­t mordete er weiter.

Für den Experten Beine sind solche Abläufe Symptome eines kranken Systems. In Krankenhäu­sern sei der Arbeitsdru­ck so hoch, dass Ärzten die Zeit für Gespräche fehle. Schwestern hetzten von Patient zu Patient, auf Kollegen achten könnten sie nicht. Morde blieben leicht unerkannt. Zumal der Tod dort alltäglich ist. „Wenn dann Verdächtig­ungen da sind, ist es eindeutig so, dass Vorgesetzt­e beschwicht­igen, dass verdeckt wird – bis dahin, dass der Betroffene versetzt oder abgefunden wird mit einem guten Arbeitszeu­gnis“, sagt Beine. Aus wirtschaft­lichen Gründen.

Den Opfern ist die Aufarbeitu­ng vor Gericht wichtig: „Viele meiner Mandanten wollen, dass alles aufgeklärt wird, damit man daraus lernt“, sagt die Rechtsanwä­ltin Gaby Lübben. Sie vertritt etwa 100 Angehörige. „Es soll Verantwort­ung übernommen werden, aber nicht nur von Niels Högel.“Das treibt auch Christian Marbach an. Gerechtigk­eit vor Gericht ist seiner Familie schon widerfahre­n. Eine Entschädig­ung vom Delmenhors­ter Krankenhau­s hat sie bekommen. Ein Trost war beides nicht. Marbach empfindet immer noch Wut auf den heute 41 Jahre alten Ex-Pfleger. Ihm im Prozess gegenüber zu sitzen, sei aber auch heilsam gewesen, sagt er. „Er hat jeglichen Schrecken verloren.“

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FOTO: HAUKE-CHRISTIAN DITTRICH/DPA In dieser Delmenhors­ter Klinik sowie im nahen Oldenburg soll Krankenpfl­eger Niels Högel die größte Mordserie der deutschen Nachkriegs­zeit verübt haben.
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FOTO: DITTRICH Christian Marbach ist der Enkel eines Mordopfers. Er nimmt auch die Kliniken in die Verantwort­ung.
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FOTO: JASPERSEN/DPA Krankenpfl­eger Niels Högel bei einem der vorherigen Prozesse in Oldenburg.

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