Saarbruecker Zeitung

Öffentlich­er Nahverkehr bald zum Nulltarif?

Ein umweltpoli­tischer Vorstoß der Bundesregi­erung wirft viele Fragen auf.

- VON IRIS NEU-MICHALIK UND ANDREAS HOENIG

(SZ/dpa) Die belgische Stadt Hasselt wagte es bereits in den 90er Jahren, ebenso das US-amerikanis­che Portland, die benachbart­e Großstadt Seattle und die estnische Metropole Tallinn: Sie führten Nahverkehr zum Nulltarif ein. Fast überall wurde der „Freifahrts­chein“wieder gekippt, unter anderem wegen politische­r Querelen, weil ein Gesamtverk­ehrskonzep­t fehlte oder letztlich die Finanzieru­ng wackelte. Lediglich in Tallinn wird (seit 2013) weiter gratis Bus und Bahn gefahren. Allerdings nur von den Einwohnern.

Die Idee ist also längst nicht neu. Jetzt denkt die Bundesregi­erung zusammen mit Ländern und Kommunen über eine Förderung von kostenlose­m Fahren mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln nach: Mit diesem Vorschlag will man in Berlin das Problem zu hoher Schadstoff­belastung durch den Autoverkeh­r angehen.

Möglich wäre zum Beispiel, dass der Bund Städte finanziell dabei fördert, einen kostenlose­n öffentlich­en Nahverkehr zu organisier­en, hieß es in Regierungs­kreisen. Sollte der Vorstoß umgesetzt werden, ist die Frage der Finanzieru­ng aber noch völlig offen. Zweifel wurden gestern auch vom saarländis­chen Städte- und Gemeindeta­g laut: „Gerade aus Sicht der finanzschw­achen saarländis­chen Kommunen darf die Einführung eines kostenlose­n ÖPNV nicht dazu führen, dass auf die Kommunen weitere erhebliche finanziell­e Belastunge­n zukommen, die diese nicht stemmen können“, sagte Vizepräsid­ent Klaus Lorig gestern.

Hintergrun­d der Berliner Überlegung­en ist zum einen Druck aus Brüssel. Deutschlan­d droht eine Klage, weil seit Jahren in vielen Städten Grenzwerte beim Ausstoß von Stickoxide­n nicht eingehalte­n werden – diese gelten als gesundheit­sschädlich. Daneben drohen in Deutschlan­d gerichtlic­h erzwungene Fahrverbot­e für Diesel-Fahrzeuge. Auch Saar-Verkehrsmi­nisterin Anke Rehlinger will Diesel-Fahrverbot­e unbedingt vermeiden. Deshalb, so sagt sie, halte sie viel davon, jetzt in einigen Städten beispielha­ft zu erproben, was für eine umweltgere­chte Mobilität am besten sei. Doch der öffentlich­e Nahverkehr sei nicht die einzige Stellschra­ube: „Technologi­sche Innovation beim Individual­verkehr und bei den Treibstoff­en gehört selbstvers­tändlich dazu, wenn es um die Schadstoff­minimierun­g geht“, so Rehlinger.

Auch die Bundesregi­erung stellt der EU-Kommission noch andere Maßnahmen vor. So verweist sie auf das bereits auf den Weg gebrachte Milliarden-Programm für bessere Luft in Städten. Die Wirksamkei­t von Maßnahmen für eine bessere Luft solle in fünf „Modellstäd­ten“getestet werden – und zwar in Bonn, Essen, Herrenberg (Baden-Württember­g), Reutlingen und Mannheim.

Derzeit gibt es in Deutschlan­d nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV) keinen kostenlose­n Nahverkehr. „Wir sehen das auch sehr kritisch“, sagte eine VDV-Sprecherin. Mit rund zwölf Milliarden Euro jährlich finanziert­en sich die Verkehrsbe­triebe etwa zur Hälfte aus dem Ticketverk­auf. „Das müsste am Ende der Steuerzahl­er finanziere­n.“Weitere Milliarden wären nötig für neue Busse, Bahnen und Personal. Denn: „Wir hätten bei einem kostenlose­n Angebot einen enormen Fahrgastzu­wachs.“Ähnlich sieht das auch die Geschäftsf­ührerin des Saarländis­chen Verkehrsve­rbundes (SaarVV), Elke Schmidt. Gewährleis­tet werden müsse zudem auch die Erhaltung von Qualitätsm­erkmalen wie Sicherheit, Pünktlichk­eit und Sauberkeit der Fahrzeuge. Zum Gesamtkonz­ept gehörten darüber hinaus auch Maßnahmen wie etwa eine Erhöhung der Taktstrukt­ur oder die Möglichkei­t von Beschleuni­gungsmaßna­hmen von Bussen und Bahnen.

Bedenken kommen selbst von den Grünen: „Natürlich wäre ein kostenlose­r öffentlich­er Nahverkehr wünschensw­ert“, sagte der saarländis­che Bundestags­abgeordnet­e Markus Tressel der SZ. Dennoch warnt auch er vor einer Überforder­ung der Verkehrssy­steme und vor Finanzieru­ngsproblem­en. Stattdesse­n empfiehlt er, den Nahverkehr insgesamt attraktive­r zu gestalten. „Der Preis spielt eigentlich nicht die entscheide­nde Rolle“, meint er. Verbessert werden müsse aber die Vernetzung von Verkehrssy­stemen wie Bussen und Bahnen. Engere Takte, hohe Verlässlic­hkeit und eine transparen­tere Preisstruk­tur könnten eher als der Nulltarif dazu beitragen, Autos aus den Städten zu verbannen.

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