Saarbruecker Zeitung

Die Eskalation in Syrien und die Ohnmacht der Diplomatie

Ost-Ghuta und Afrin: An zwei Fronten spitzt sich die Lage in dem Bürgerkrie­gsland dramatisch zu. Die Staatengem­einschaft appelliert – tut aber wenig.

- VON THOMAS KÖRBEL, JAN KUHLMANN UND JAN DIRK HERBERMANN Produktion dieser Seite: Pascal Becher, Frauke Scholl Teresa Bauer

(dpa/epd) Die Bomben und Granaten auf Ost-Ghuta schlagen täglich ein, oft über Stunden. Auch gestern Morgen sind Explosione­n zu hören, als der Aktivist Masen al-Schami über Telefon die Lage in dem eingeschlo­ssenen Rebellenge­biet nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus beschreibt. „Dutzende Granaten fallen jede Minute“, sagt Masen. Wegen der Angriffe könne sich niemand auf die Straße wagen, nicht einmal die Helfer, um Verletzte zu versorgen. Dann eine laute Explosion, die Leitung ist unterbroch­en. Alltag im Krieg.

Seit Tagen erlebt Ost-Ghuta die schlimmste Angriffswe­lle der Truppen von Syriens Machthaber Baschar al-Assad seit Beginn des syrischen Bürgerkrie­gs vor fast sieben Jahren. Aktivisten sprechen von einem „Massaker“, „Völkermord“und „Holocaust“. Bilder zeigen Leichen unter Trümmern und Straßenzüg­e in Schutt und Asche. Rund 400 000 Menschen sind in der Stadt eingekesse­lt. Mehr als 300 Zivilisten wurden Aktivisten zufolge seit Sonntag getötet, mehr als 1700 verletzt. In Berlin verurteilt am Morgen auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Bundestag das „Massaker“und plädiert für mehr Engagement der EU in der Krise. Die Bundesregi­erung sagt eine zusätzlich­e humanitäre Soforthilf­e von zehn Millionen Euro für Syrien zu. Internatio­nal wächst der Ruf nach einer Feuerpause in dem geschunden­en Land.

Denn in Syrien eskaliert die Situation – nicht nur in Ost-Ghuta, sondern auch in Afrin. Im Norden des Landes läuft seit Januar eine umstritten­e Offensive der türkischen Armee gegen die Kurdenmili­z YPG, die die Türkei als Terrororga­nisation einstuft, und gegen deren Verbündete. Rund 1780 „Terroriste­n“seien bislang „außer Gefecht“gesetzt worden, verkünden türkische Stimmen. Und darunter seien keine Zivilisten, betonte gestern Vize-Ministerpr­äsident Bekir Bozdag. „Bei den Operatione­n der türkischen Streitkräf­te gab es bis heute keinen einzigen Zivilisten in der Region, dem auch nur die Nase geblutet hat, geschweige denn, der ums Leben gekommen ist.“Nach Angaben der syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte sind bei der Offensive bereits 112 Zivilisten getötet worden, darunter 23 Kinder.

In dem verworrene­n Syrien-Krieg kämpfen das Assad-Regime, Rebellen und Terrormili­zen um die Macht. Neben Russland stehen iranische und andere Milizen auf der Seite von Assad, während die Türkei in Afrin gegen die Kurden kämpft, die wiederum von den USA unterstütz­t werden. Durch die seit sieben Jahren anhaltende­n Kämpfe in dem Land wurden nach UN-Schätzunge­n Hunderttau­sende Menschen getötet. 13,5 Millionen Syrer sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, fast elf Millionen sind im eigenen Land oder jenseits der Grenzen auf der Flucht.

Die 400 000 Menschen in dem abgeriegel­ten Ost-Ghuta leiden in „einer Hölle auf Erden“, warnt UN-Generalsek­retär António Guterres. Seit 2013 belagern syrische Regierungs­truppen das Gebiet, es herrscht Mangel an Essen und Medikament­en. Die syrische Opposition gibt auch Russland eine Schuld an der Eskalation. Moskau habe im vergangene­n Jahr ein Abkommen über den Abzug der 240 in Ost-Ghuta aktiven Anhänger des Terrornetz­werks Al-Qaida nicht umgesetzt, heißt es. Demnach wollte Russland die Dschihadis­ten in dem Gebiet lassen, um einen Vorwand für Angriffe zu haben. Der Kreml weist das zurück.

Und Russland steht nicht zum ersten Mal im Mittelpunk­t der diplomatis­chen Krise um Syrien. Angesichts der dramatisch­en Lage wächst internatio­nal der Druck auf das Assad-Regime und Russland, einer Feuerpause zuzustimme­n. Am Mittwoch hatten UN-Generalsek­retär Guterres und sein Vorgänger Ban Ki Moon im Sicherheit­srat noch einmal auf die Dringlichk­eit des Themas hingewiese­n. Gestern sollte das Gremium erneut über den Konflikt beraten und dabei möglicherw­eise auch über eine 30-tägige Feuerpause abstimmen, für die Schweden und Kuwait geworben hatten. Ungewiss blieb bis zuletzt, wie sich die Veto-Macht Russland verhalten würde. Schon mehrfach hat sie Syrien-Resolution­en blockiert und setzt stattdesse­n auf eigene Gespräche mit befreundet­en Akteuren. Außer fragilen Deeskalati­onszonen kam dabei bislang nicht viel heraus. Kritiker werfen Moskau vor, den Sicherheit­srat in seiner Fehde gegen die USA lahmzulege­n. Von einem Versagen der internatio­nalen Diplomatie in Syrien sprechen Kritiker schon jetzt.

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FOTO: GHOUTA MEDIA CENTER/AP/DPA Zerstörung und hunderte Tote: Ost-Ghuta steht seit Tagen unter Feuer syrischer Truppen. Kanzlerin Merkel verurteilt­e das „Massaker“.

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