Saarbruecker Zeitung

Helikopter-Eltern im Anflug

Sie wollen nur das Beste und packen den Nachwuchs in Watte. Werden Kinder heute zur Unmündigke­it erzogen?

- VON IRIS NEU-MICHALIK

SAARBRÜCKE­N Lena ist ein freundlich­es, ein stilles Kind. Ihre Mutter Kim betreibt ein Café. Dort sitzt das achtjährig­e Mädchen wochentags nach der Schule an einem wenig frequentie­rten Tisch in einer Ecke, macht Schulaufga­ben, malt oder beschäftig­t sich – meist mit dem Smartphone. Kontakt mit Gleichaltr­igen hat Lena wenig. Ihre Mutter scheint das auch nicht weiter zu stören. Im Gegenteil: „Irgendwie mag ich es nicht, wenn Lena nicht da ist und ich sie nicht im Auge haben kann“, sagt sie. Was auch ein Grund dafür ist, dass draußen spielen – selbst im Sommer – für Lena weitgehend flach fällt. „Leider zu wenig Zeit, schließlic­h muss ich hier den Laden schmeißen“, argumentie­rt die Alleinerzi­ehende achselzuck­end. Auf die Idee, Lena „allein“mit anderen Kindern spielen zu lassen, käme sie erst gar nicht. Was könnte da nicht alles passieren? Unfall, Entführung, Missbrauch, Mobbing – bei solchen Gedanken türmen Ängste übermächti­g auf. Sind nicht Gazetten und TV-Nachrichte­n voll von Kindertrag­ödien jeglicher Art? Auch Übernachte­n bei einer Klassenkam­eradin kommt für Lena nicht in Frage. Kim winkt da energisch ab: „Zum einen kenne ich die Eltern nicht. Außerdem weiß ich nicht, was sie dort zu essen bekommt und ob sie rechtzeiti­g ins Bett gebracht wird.“

Lena ist Einzelkind, aber bei weitem kein Einzelfall. Auch ihre überbesorg­te Mutter befindet sich mit anderen Eltern oder Elternteil­en in bester Gesellscha­ft. Helikopter-Eltern nennen Experten diese Spezies von Müttern und Vätern, deren psychische Befindlich­keit, die Zerrissenh­eit zwischen Liebe und Loslassen, inzwischen ganze Bücherrega­le füllt. Sie verteidige­n um jeden Preis die totale Lufthoheit über ihren Kindern, kreisen beharrlich über ihnen wie Hubschraub­er.

Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes, schätzt, dass etwa ein Fünftel der Eltern es mit ihren Sprössling­en nicht nur gut, sondern zu gut meint. Für ihn gibt es drei Arten von Helikopter-Eltern: Die „Transporth­ubschraube­r“wittern überall Gefahren und kutschiere­n Sohn oder Tochter daher grundsätzl­ich selbst zur Schule, zum Fussballtr­aining, zum Geigen- oder Malunterri­cht. Nicht selten löst die Vielzahl elterliche­r Transportm­ittel einen Verkehrsin­farkt vor Schulen aus, die die Polizei auf den Plan ruft. „Es gibt Eltern, die selbst in verkehrsbe­ruhigten Zonen ihre Kinder 800 Meter bis zur Grundschul­e fahren, weil es drei Tropfen regnet“, sagt Kraus. Die „Rettungshu­bschrauber“, eine weitere Helikopter-Gattung, tragen ihren Sprössling­en vergessene Turnbeutel sowie Pausenbrot- und Obst-Boxen bis in die Klassenzim­mer nach. Die gefürchtet­en „Kampfhubsc­hrauber“ schließlic­h überlassen vor allem in der Schule nichts dem Zufall: Sie beherrsche­n jeden Elternaben­d, feilschen und streiten mit dem Lehrperson­al um Noten, Stundenplä­ne und Disziplina­r-Maßnahmen. Dabei kommt es Berichten zufolge immer häufiger vor, dass sich Eltern gar nicht erst an die Schule selbst, sondern gleich ans Kultusmini­sterium wenden.

Infolge der wachsenden Überkontro­lle und des grassieren­den Ehrgeizes nehmen manche Eltern die Hausaufgab­en ihrer Kinder auch selbst in die Hand. Die Autorinnen Lena Greiner und Carola Padtberg zitieren in ihrem Buch mit dem bezeichnen­den Titel „Verschiebe­n Sie die Deutscharb­eit – mein Sohn hat Geburtstag“eine gebeutelte Sachkunde-Lehrerin, die die Eltern ihrer Schüler inständig darum bittet, ihren Kindern nächstes Mal die Arbeit nicht abzunehmen: „Oder denken Sie, ich merke nicht, ob ein Rechtsanwa­lt oder seine achtjährig­e Tochter das Referat geschriebe­n hat?“

Überfürsor­ge und Förderwahn treiben denn auch manch unfreiwill­ig komische Blüten. So berichten Greiner und Padtberg auch von einer Mutter, die völlig entrüstet darüber war, dass die Grundschul­e ihrer Tochter, die damals die zweite Klasse besuchte, kein Chinesisch anbot. Dies sei doch schließlic­h „der für uns entscheide­nde Markt“, meinte sie. Andere Eltern wiederum forderten einen beheizten Tunnel zum Schulgebäu­de, damit sich ihre Kinder auf dem Weg zur Toilette nicht erkälten.

Experten warnen bereits vor einer Generation der Unmündigke­it, weil Kindern alle Unannehmli­chkeiten aus dem Weg geräumt würden. Dabei gehöre doch gerade auch das Scheitern zu den fundamenta­len Erfahrunge­n in der Entwicklun­g eines jeden Menschen.

„Kindern nichts zuzutrauen, führt zu Unselbstst­ändigkeit“, pflichtet der Vorsitzend­e der Kinderärzt­e im Saarland, Dr. Karl Stiller, bei. Warum aber werden Mädchen und Jungen so häufig in Watte gepackt? Warum lassen Eltern ihrem Nachwuchs immer weniger Freiraum? Stiller führt das unter anderem darauf zurück, dass heute „90 Prozent der Kinder bewusst gezeugt“würden. „Früher kamen Kinder weitgehend ungeplant zur Welt. Sie waren einfach da. Heute sind es geplante Kinder, die dann auch die Pläne der Eltern mit ihnen erfüllen müssen.“Deshalb kämen Eltern auch immer weniger mit den Defiziten ihrer Sprössling­e klar, meint Stiller und gibt dazu ein Beispiel: „Wenn früher ein Banker-Kind eine Rechenschw­äche hatte, dann hat man gesagt: Macht nichts, dann wird es eben kein Banker, sondern Deutsch-Lehrer oder was anderes. Heute bekommt es Nachhilfe oder Ergotherap­ie, bis es die Erwartunge­n erfüllt.“Kinder seien aber keine Klone, mahnt Stiller: „Die Natur will Leben erzeugen, sie spielt dabei Roulette und will die Variation.“

„Früher kamen Kinder weitgehend ungeplant zur Welt. Heute sind es geplante Kinder, die dann häufig auch die Pläne ihrer Eltern mit ihnen erfüllen müssen.“Karl Stiller Kinderarzt in Homburg

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FOTO: FOTOLIA Helikopter-Eltern schwirren stets um ihren Nachwuchs herum und lassen ihn nicht aus den Augen.

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