Saarbruecker Zeitung

Opfer sexueller Gewalt gewinnen Zeit

Mit der „Vertraulic­hen Spurensich­erung“können Frauen noch Wochen nach einer Vergewalti­gung Anzeige erstatten.

- VON NORA ERNST

SAARBRÜCKE­N Viele Frauen zeigen den Täter nach einer Vergewalti­gung nicht an. Häufig war es kein Fremder, sondern der Partner oder ein Bekannter. „In solchen Fällen ist die Scham viel größer, auch die Angst, dass einem nicht geglaubt wird“, sagt Sonja Bader vom Frauennotr­uf. Manchmal sei die Frau auch abhängig vom Mann oder mache sich selbst Vorwürfe. Viele schrecke zudem ab, dass Polizei und Justiz ihnen zwangsläuf­ig intime Fragen stellen.

Um Frauen die Entscheidu­ng, ob sie Anzeige erstatten oder nicht, so kurz nach der Tat abzunehmen, hat die Landesregi­erung im November 2014 die „Vertraulic­he Spurensich­erung“eingeführt. Damit können Frauen von einer Gynäkologi­n die Spuren sichern lassen, die zehn Jahre lang aufbewahrt werden, falls sie später beschließe­n, zur Polizei zu gehen. In fünf Kliniken und zehn Frauenarzt­praxen im Saarland wird dies angeboten. Dabei werde unter anderem Sperma gesichert und Fotos von blauen Flecken gemacht.

26 Frauen haben dieses Angebot bisher genutzt. Eine der 26 Frauen hat sich laut Sozialmini­sterium tatsächlic­h zur Anzeige entschiede­n. Ob der Täter verurteilt wurde, ist nicht bekannt. Das scheint auf den ersten Blick nicht viel, doch aus Sicht von Bader ist es ein Erfolg: „Wir sind überrascht, wie gut es angenommen wird.“Die Kriminalst­atistik verzeichne­t für das Jahr 2016 insgesamt 83 Sexualdeli­kte im Saarland. Doch die Dunkelziff­er sei „riesig“, so Bader.

Doch das Angebot ist nicht unumstritt­en. So hält es der Linken-Landtagsab­geordnete Dennis Lander zwar an sich für sinnvoll, doch bei der Umsetzung hapere es. Lander, der vor seiner Zeit als Landtagsab­geordneter als hilfswisse­nschaftlic­her Mitarbeite­r in der Rechtsmedi­zin arbeitete, hat Zweifel, dass ein Gynäkologe in der Lage ist, die Spuren so zu sichern, dass sie später vor Gericht verwendet werden können. „Klinikärzt­e sind auf Heilung spezialisi­ert, nicht auf Beweissich­erung.“Zwar werden die Ärzte geschult, doch Lander hält es für fraglich, dass dies die fünfjährig­e Fachausbil­dung eines Rechtsmedi­ziners ersetzen kann. Hinzu komme, dass die Ärzte kaum Erfahrung sammeln könnten – bei im Schnitt neun Fällen pro Jahr, verteilt auf 15 Standorte. Die Ärzte haben zwar einen umfassende­n Dokumentat­ionsbogen, den sie Schritt für Schritt durchgehen – ein aufwändige­s Vorgehen für die Mediziner, die ohnehin häufig unter Zeitdruck stehen. „Ich habe es selbst erlebt, dass Ärzte deswegen genervt waren, was wiederum die Frau stark verunsiche­rt hat“, sagt Lander. Ideal wäre aus seiner Sicht, wenn ein Gynäkologe mit forensisch­er Erfahrung die Frauen untersuche­n würde, und ein Arzt pro Landkreis zuständig wäre, der mehr praktische Erfahrung hätte.

Experten bestätigen Landers Einschätzu­ng. So sagt eine Fachärztin für Rechtsmedi­zin, die anonym bleiben möchte: „Gynäkologe­n können hervorrage­nd den gynäkologi­schen Status einer Frau erheben, aber die Begleitver­letzungen so beschreibe­n, dass der Tathergang rekonstrui­ert werden kann, können sie nicht.“So müssten etwa blaue Flecken auf eine spezielle Weise geschilder­t werden, damit ersichtlic­h wird, dass es sich um Griffspure­n handelt. „Es reicht nicht, zu schreiben, die Frau habe Hämatome am Oberarm. Man muss die Verletzung­en so beschreibe­n, dass klar wird, dass sie von vier Fingern und einem Daumen stammen.“Die Expertin wirft zudem die Frage auf, an wen sich vergewalti­gte Männer wenden können: Ihnen stehe das Angebot nicht offen.

Das Sozialmini­sterium hält die Kritik für unangemess­en: Da die Ärzte geschult werden und sich verpflicht­en, sich fortzubild­en, sei „die Fachlichke­it absolut gegeben“, betont eine Sprecherin: „Die Spuren werden in jedem Fall so gesichert, dass sie gerichtsve­rwertbar sind.“Dabei würden die gleichen Standards angelegt wie bei einer polizeilic­hen Spurensich­erung. Auch das Justizmini­sterium hat keine Bedenken, dass die Spuren vor Gericht Bestand haben.

Die SPD-Landtagsfr­aktion hält von Landers Vorschlag, das Angebot nur an sechs Standorten zu machen, wenig: „Zentralisi­erung und weniger Angebote machen die Hemmschwel­le für viele Frauen noch größer“, sagt die frauenpoli­tische Sprecherin Martina Holzner. Sie hält das Projekt für „extrem wichtig“: „Jede Frau, die sich meldet und davon Gebrauch macht, ist ein Erfolg.“Genau deshalb müsse darauf immer wieder aufmerksam gemacht werden.

Kliniken und Arztpraxen, die die Vertraulic­he Spurensich­erung anbieten, finden Betroffene unter www.saarland.de/ spuren-sichern.htm

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FOTO: JANSEN/DPA Frauen, die nach einer Vergewalti­gung Angst haben, Anzeige zu erstatten, können nun Spuren sichern lassen.

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