Steinbrück legt mit neuem Buch den Finger in die Wunde der SPD
BERLIN (dpa) Schon der Anfang sagt alles, der Mann hat ja ein Faible für britischen Humor. „Prolog oder Nekrolog?“, fragt Peer Steinbrück am Anfang einer neuen Streitschrift zur existenziellen Krise der SPD. Ein Nekrolog ist ein Nachruf auf einen Verstorbenen. Er sieht seine SPD, die nun wieder den Gang in eine große Koalition wagt, auf der Intensivstation. Der Ex-Kanzlerkandidat schreibt gleich im ersten Satz, dass er natürlich weiß, dass er angreifbar ist mit seiner schonungslosen Analyse. „Ja, ich weiß: Der Verlierer von 2013 sollte sich mit einer Analyse der Wahlniederlage der SPD vom September 2017 zurückhalten.“
Steinbrücks Buch „Das Elend der Sozialdemokratie – Anmerkungen eines Genossen“, seit gestern im Handel, erscheint zu einer Zeit, in der die Partei turbulente Wochen hinter sich hat, inklusive des Abschieds des SPD-Chefs und Kanzlerkandidaten Martin Schulz.
Steinbrück hält die erneute große Koalition allein schon wegen der Krisen in Europa für unausweichlich. In Anbetracht des suboptimalen eigenen Wahlkampfes von 2013 und der Tatsache, dass auch er noch nie eine Wahl gewonnen hat, kommt es aber durchaus selbstgerecht daher, wie sich Steinbrück an der aktuellen SPD abarbeitet. Aber der Befund eines der klügsten (und streitbarsten) SPD-Köpfe ist lesenswert. Es geht dem Hanseaten um die großen, langen Linien seiner Partei – aber es ist auch ein Einwurf von der Seitenlinie des Spielfeldes. Es ist bisher nicht bekannt, dass sich Steinbrück aktiv in den geplanten SPD-Erneuerungsprozess einbringen will. Und es ist eine provokante Streitschrift, die zumindest für ihn persönlich aus verkaufstechnischer Sicht sicher nicht zum falschesten Zeitpunkt kommt.
Er kritisiert darin eine diffuse Programmatik, einen auf 45 Leute aufgeblähten Vorstand („halbe Kompaniestärke“), „Personalbesetzungen nach Regional-, Flügelund Geschlechterproporz“. Das Wort des Jahres der SPD laute „Erneuerung“– aber statt wirklich alte Pfade zu verlassen und schonungslose Analyse zu betreiben, setze man auf „politische Sandkastenspiele“. Hinweise auf Gründe für den Sinkflug der SPD seien an „einer Wand aus Selbsthypnose“abgeprallt. So gebe es beim Thema Flüchtlinge die Pole „Refugees welcome“und „Grenzen dicht“. Gleiches beim Thema Europa – die einen wollen mehr Geld überweisen, die anderen nicht weiter Zahlmeister sein. Die SPD versuche das mit Beschlüssen zu umschiffen, die das Profil bis zur Unkenntlichkeit verwässerten. „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, kritisiert Steinbrück.
Mit seinem Titel greift der frühere Bundesfinanzminister und nordrhein-westfälische Ministerpräsident die Überschrift eines Essays des liberalen Vordenkers Ralf Dahrendorf von 1987 auf. Auch damals war die Sozialdemokratie europaweit im Sinkflug – Dahrendorf konstatierte, die Sozialdemokraten seien immer die Treiber der politischen und sozialen Entwicklung gewesen. Sie hätten den Kapitalismus in Europa gezähmt, dann aber ihre Kraft verloren.
Nach einem Zwischenhoch zur Jahrtausendwende unter Rot-Grün als Gegenpol zum Neoliberalismus sieht es aus Sicht Steinbrücks heute noch finsterer aus. Die SPD habe in ihrer ursprünglichen Mission den Kapitalismus mit sozialer Marktwirtschaft und einem Wohlfahrtsstaat eingehegt. Sogar die Union hat sich ja unter Merkel sozialdemokratisiert – und mit der SPD einen Mindestlohn eingeführt.
Analog zu Dahrendorfs Essay betont Steinbrück, die SPD brauche dringend neue Antworten und Konzepte, um weiterhin unverzichtbar zu sein. Die SPD sei dann mehrheitsfähig gewesen, wenn sie drei Profile zugleich habe anbieten können: soziale Kompetenz, wirtschaftlichen Sachverstand und Plattform für zentrale gesellschaftliche Debatten. „Sie darf sich deshalb nicht länger darauf beschränken, eine Art Dienstleistungsagentur für die Alltagssorgen der Bürger zu sein.“Es gehe um die Stärkung des „wunderbaren Kontinents Europa“, die Zähmung des Kapitalismus 2.0 und ein Einhegen des Rechtspopulismus der AfD.