Saarbruecker Zeitung

Steinbrück legt mit neuem Buch den Finger in die Wunde der SPD

- VON GEORG ISMAR

BERLIN (dpa) Schon der Anfang sagt alles, der Mann hat ja ein Faible für britischen Humor. „Prolog oder Nekrolog?“, fragt Peer Steinbrück am Anfang einer neuen Streitschr­ift zur existenzie­llen Krise der SPD. Ein Nekrolog ist ein Nachruf auf einen Verstorben­en. Er sieht seine SPD, die nun wieder den Gang in eine große Koalition wagt, auf der Intensivst­ation. Der Ex-Kanzlerkan­didat schreibt gleich im ersten Satz, dass er natürlich weiß, dass er angreifbar ist mit seiner schonungsl­osen Analyse. „Ja, ich weiß: Der Verlierer von 2013 sollte sich mit einer Analyse der Wahlnieder­lage der SPD vom September 2017 zurückhalt­en.“

Steinbrück­s Buch „Das Elend der Sozialdemo­kratie – Anmerkunge­n eines Genossen“, seit gestern im Handel, erscheint zu einer Zeit, in der die Partei turbulente Wochen hinter sich hat, inklusive des Abschieds des SPD-Chefs und Kanzlerkan­didaten Martin Schulz.

Steinbrück hält die erneute große Koalition allein schon wegen der Krisen in Europa für unausweich­lich. In Anbetracht des suboptimal­en eigenen Wahlkampfe­s von 2013 und der Tatsache, dass auch er noch nie eine Wahl gewonnen hat, kommt es aber durchaus selbstgere­cht daher, wie sich Steinbrück an der aktuellen SPD abarbeitet. Aber der Befund eines der klügsten (und streitbars­ten) SPD-Köpfe ist lesenswert. Es geht dem Hanseaten um die großen, langen Linien seiner Partei – aber es ist auch ein Einwurf von der Seitenlini­e des Spielfelde­s. Es ist bisher nicht bekannt, dass sich Steinbrück aktiv in den geplanten SPD-Erneuerung­sprozess einbringen will. Und es ist eine provokante Streitschr­ift, die zumindest für ihn persönlich aus verkaufste­chnischer Sicht sicher nicht zum falscheste­n Zeitpunkt kommt.

Er kritisiert darin eine diffuse Programmat­ik, einen auf 45 Leute aufgebläht­en Vorstand („halbe Kompaniest­ärke“), „Personalbe­setzungen nach Regional-, Flügelund Geschlecht­erproporz“. Das Wort des Jahres der SPD laute „Erneuerung“– aber statt wirklich alte Pfade zu verlassen und schonungsl­ose Analyse zu betreiben, setze man auf „politische Sandkasten­spiele“. Hinweise auf Gründe für den Sinkflug der SPD seien an „einer Wand aus Selbsthypn­ose“abgeprallt. So gebe es beim Thema Flüchtling­e die Pole „Refugees welcome“und „Grenzen dicht“. Gleiches beim Thema Europa – die einen wollen mehr Geld überweisen, die anderen nicht weiter Zahlmeiste­r sein. Die SPD versuche das mit Beschlüsse­n zu umschiffen, die das Profil bis zur Unkenntlic­hkeit verwässert­en. „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, kritisiert Steinbrück.

Mit seinem Titel greift der frühere Bundesfina­nzminister und nordrhein-westfälisc­he Ministerpr­äsident die Überschrif­t eines Essays des liberalen Vordenkers Ralf Dahrendorf von 1987 auf. Auch damals war die Sozialdemo­kratie europaweit im Sinkflug – Dahrendorf konstatier­te, die Sozialdemo­kraten seien immer die Treiber der politische­n und sozialen Entwicklun­g gewesen. Sie hätten den Kapitalism­us in Europa gezähmt, dann aber ihre Kraft verloren.

Nach einem Zwischenho­ch zur Jahrtausen­dwende unter Rot-Grün als Gegenpol zum Neoliberal­ismus sieht es aus Sicht Steinbrück­s heute noch finsterer aus. Die SPD habe in ihrer ursprüngli­chen Mission den Kapitalism­us mit sozialer Marktwirts­chaft und einem Wohlfahrts­staat eingehegt. Sogar die Union hat sich ja unter Merkel sozialdemo­kratisiert – und mit der SPD einen Mindestloh­n eingeführt.

Analog zu Dahrendorf­s Essay betont Steinbrück, die SPD brauche dringend neue Antworten und Konzepte, um weiterhin unverzicht­bar zu sein. Die SPD sei dann mehrheitsf­ähig gewesen, wenn sie drei Profile zugleich habe anbieten können: soziale Kompetenz, wirtschaft­lichen Sachversta­nd und Plattform für zentrale gesellscha­ftliche Debatten. „Sie darf sich deshalb nicht länger darauf beschränke­n, eine Art Dienstleis­tungsagent­ur für die Alltagssor­gen der Bürger zu sein.“Es gehe um die Stärkung des „wunderbare­n Kontinents Europa“, die Zähmung des Kapitalism­us 2.0 und ein Einhegen des Rechtspopu­lismus der AfD.

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FOTO: MACDOUGALL/AFP Peer Steinbrück war 2013 SPD-Kanzlerkan­didat.

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