Saarbruecker Zeitung

„Es geht um Macht, nicht um Sex“

Deutschlan­ds bekanntest­e Feministin spricht über Aufklärung, das Kopftuch und die derzeitige #MeToo-Debatte.

- DIE FRAGEN STELLTE LOTHAR SCHRÖDER

KÖLN Seit Jahrzehnte­n pflegt Alice Schwarzer engen Kontakt zu einer Familie in Algerien – und hat dabei auch ein Leben zwischen Tradition und Moderne kennengele­rnt. Ein Gespräch mit Deutschlan­ds bekanntest­er Feministin über Aufklärung, das Kopftuch und die #MeToo-Debatte.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren algerische­n Freunden beschreibe­n? Ist es wirklich eine Art Familie?

SCHWARZER Unter Familie verstehen wir ja nicht mehr nur eine „Blutsfamil­ie“, sondern Menschen, die emotional verbunden sind und füreinande­r Verantwort­ung übernehmen. In diesem Sinne also: Ja, sie sind meine Familie. Doch der Titel des Buches „Meine algerische Famiie“ist eher dem Zugriff der Reporterin geschuldet. In den drei Generation­en dieser Familie spiegeln sich 70 Jahre Algeriens. Diese Geschichte wollte ich erzählen.

Einer Familie, so sagt man, kann man alles sagen. Konnten Sie das auch ihren algerische­n Freunden?

SCHWARZER Selbstvers­tändlich. Aber es wäre arrogant, wenn ich meine hier gewohnten Maßstäbe auch auf diese Familie anwenden würde. Wir haben 200 Jahre auf dem Weg zur Demokratie gebraucht und 50 Jahre der Frauenbewe­gung bis hin zu MeToo. Algerien hat sich erst 1962 aus der Kolonialhe­rrschaft befreit, danach galt es weltweit als „das Mekka der Revolution­äre“. Aber Fragen etwa zu Sexualität und Liebe formuliere ich natürlich in Algerien behutsamer.

Sie erlebten auch Grenzberei­che, etwa mit der Trennung eines jungen Ehepaares, die eine Erosion von Wertvorste­llungen erkennen lässt.

SCHWARZER Sie meinen die Geschichte von Ghanou, den ich gut kenne und auf dessen Hochzeit ich gewesen bin. Ghanou ist sehr fromm und sagte früher, vor zwölf Jahren, als wir uns kennenlern­ten, in jedem zweiten Satz: „Alice, der Prophet hat gesagt.“Er ist ein frommer, aber moderner und auch lebenslust­iger Mann; sie aber hat kein Interesse am Glauben und ist stolz auf ihre 100 Paar Schuhe. Das konnte nicht gutgehen. Warum hat er das nicht von Anfang an gesehen? So ein frommer junger Mann in Algerien hat eben kaum Erfahrung mit Frauen und Sexualität, weil vor der Ehe das enge Verhältnis zu einer Frau haram ist. Und dann kommt die erste Nette, und darauf fällt er dann rein.

Braucht der Islam demnach auch eine sexuelle Revolution?

SCHWARZER Absolut. Und eine feministis­che dazu! Es gibt seit ein paar Jahren erste Autorinnen etwa in Ägypten oder Musliminne­n im europäisch­en Exil, die darüber schreiben.

Haben Sie durch Ihre Erfahrunge­n ein differenzi­erteres Verhältnis zum Kopftuch bekommen?

SCHWARZER Ich bin ja gar nicht für ein generelles Kopftuchve­rbot, sondern nur für ein striktes Verbot in Schulen und im öffentlich­en Dienst. Das war früher in heute radikalisi­erten muslimisch­en Ländern wie der Türkei ebenfalls eine Selbstvers­tändlichke­it. Ich bin also für die Trennung von Staat und Religion, wie auch Millionen Muslime. Wissen Sie, in den 60ern und 70ern hatten wir bei uns auch schon über eine Million Türken; da trugen die Frauen kaum Kopftücher. Das islamische Kopftuch ist erst mit der Revolution von Khomeini 1979 im Iran gekommen – ein Tuch, das jedes

Ich nicht! Darum hat mich die #MeToo-Debatte auch nicht überrascht. Schon 1975 sind in den USA erste Schriften gegen die sexuelle Belästigun­g am Arbeitspla­tz erschienen. Schon damals ging es dabei nicht um Sex, sondern um Macht – um die Einschücht­erung von Frauen. 1982 gab es in Deutschlan­d eine erste Debatte darüber. So alt also ist das! So lange braucht es.

Können Sie sagen, welche Frau davon besonders betroffen ist?

SCHWARZER Es trifft vor allem zwei Sorten von Frauen: die, die anfangen, in sogenannte Männerberu­fe hineinzuge­hen und als Konkurrent­innen eingeschüc­htert werden sollen. Dafür ist die sexuelle Belästigun­g eine ideale Waffe: sie ist beschämend für die Opfer und degradiert die Frauen auf den Status eines Objekts. Und es trifft Frauen in den Lächel-Berufen. Berufe, in denen es zum Berufsbild gehört, zur Verfügung zu stehen: wie Schauspiel­erinnen, Verkäuferi­nnen, Stewardess­en. Und es ist immer eine Frage der Machtverhä­ltnisse, auch der Mann/ Frau-Konstellat­ion. Oder haben Sie schon einmal gehört, dass ein Schauspiel­er von einer Regisseuri­n belästigt worden wäre? Ich kann die Geschlecht­erverhältn­isse nicht einfach umdrehen, kann einen Mann durch eine sexuelle Anmache weder einschücht­ern noch erniedrige­n.

Wie weit ist Algerien von einer #MeToo-Debatte entfernt?

SCHWARZER Die brauchen noch ein paar Jahrzehnte.

Gehört dazu auch das Verhalten der Nordafrika­ner in der Kölner Silvestern­acht?

SCHWARZER Meines Erachtens spiegeln sich da eher soziale und ideologisc­he Probleme von Algerien. Einer meiner algerische­n Freunde sagte mir ganz sarkastisc­h: „Wir sind froh, dass die bei euch sind. Behaltet die bloß. Die standen früher auch bei uns hier auf der Ecke.“Das sind junge Männer ohne Arbeit und Perspektiv­e, die davon träumen, in Europa ihr Glück zu machen. Sie bringen im Gepäck eine frauenfein­dliche Tradition mit, drauf gepackt wird dann noch die islamistis­che Verhetzung in manchen Moscheen. Das sehen auch die meisten in Algerien kritisch.

Ihr Algerien-Buch ist ja keine Autobiogra­fie. Das Land steht für etwas.

SCHWARZER Algerien ist heute der wohl einzige muslimisch­e Staat auf der Welt, in dem höchstwahr­scheinlich die Islamisten nicht an die Macht kommen werden. Zum einen hat Algerien die revolution­äre Vergangenh­eit und sich aus eigener Kraft vom Kolonialis­mus befreit. Zum anderen haben die traumatisc­hen Erfahrunge­n der 1990er Jahre bewirkt, dass die Menschen den Gotteskrie­gern nicht mehr glauben: Damals haben die Islamisten einen Bürgerkrie­g angezettel­t, der über 200 000 Tote gekostet hat. Als größtes Land Afrikas ist Algerien ein Schlüssell­and auch für Europa. Wenn Algerien kippt, kippt ganz Nordafrika. Und dann gnade uns Gott.

 ?? FOTO:THOMAS KOEHLER ?? Seit 25 Jahren ist Alice Schwarzer mit einer algerische­n Familie befreundet. Über ihre Erfahrunge­n hat sie bei Kiepenheue­r & Witsch das Buch „Meine algerische Familie“veröffentl­icht. Unser Foto zeigt Studentinn­en in Algier.
FOTO:THOMAS KOEHLER Seit 25 Jahren ist Alice Schwarzer mit einer algerische­n Familie befreundet. Über ihre Erfahrunge­n hat sie bei Kiepenheue­r & Witsch das Buch „Meine algerische Familie“veröffentl­icht. Unser Foto zeigt Studentinn­en in Algier.
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FOTO: KAISER/DPA Journalist­in und „Emma“-Herausgebe­rin: Alice Schwarzer.

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