Saarbruecker Zeitung

Neue Ausstellun­g über deutsche Mythen

Historisch­e Mythen aus der jüngeren deutschen Vergangenh­eit hat das Haus der Geschichte in Bonn zusammenge­tragen. Knapp 900 Objekte erzählen von deutschen Mythen wie der „Stunde Null“, dem „Wirtschaft­swunder“und der „Befreiung durch die siegreiche Sowjetu

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

(dpa) Eine bekannte Stimme begrüßt den Besucher im Bonner Haus der Geschichte: „Aus dem Hintergrun­d müsste Rahn schießen. Rahn schießt.“Der Rest fehlt, aber viele können in Gedanken weiterspre­chen: „Tor, Tor, Tor, Tor! Tor für Deutschlan­d!“Es sind die berühmten Sätze des Radiorepor­ters Herbert Zimmermann beim WM-Finale 1954. Der Titelgewin­n neun Jahre nach Kriegsende ist legendär – doch er wurde das erst Jahrzehnte später. Das zeigt die seit Freitag geöffnete Ausstellun­g „Deutsche Mythen seit 1945“.

1954 brachten die Zeitungen nur am Tag nach dem Spiel größere Artikel, dann brach die Berichters­tattung erstmal ab. In den 1970er und 1980er Jahren erinnerte man nur noch sehr sporadisch an das Spiel. Mythische Proportion­en wuchsen dem Ereignis erst in den 90er Jahren und dann 2003 durch Sönke Wortmanns Kinofilm „Das Wunder von Bern“zu. Dreimal habe Bundeskanz­ler Gerhard Schröder während der Vorführung geweint, berichtete Wortmann. Es gab sogar kleine Steine aus dem 2001 abgebroche­nen Berner Stadion Wankdorf zu kaufen. Ein Mythos war geboren – mit 50 Jahren Verspätung. Denn erst jetzt war das demokratis­ch gefestigte und wiedervere­inigte Deutschlan­d selbstbewu­sst genug, das Spiel als eine Art nationale Wiedergebu­rt zu feiern.

Unter Mythen versteht das Haus der Geschichte dabei keine Märchen, keine „fake news“, sondern „Erinnerung­skonstrukt­ionen“. Ereignisse, die Teil der kollektive­n Erinnerung wurden und dadurch die nationale Identität mitbestimm­en. Solche Mythen hätten immer einen wahren Kern, oft vereinfach­ten sie aber die historisch­e Wahrheit, erläutert der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, Hans Walter Hütter. „Vielleicht haben sie gerade deshalb eine so große Wirkung.“Ein Beispiel ist für ihn die deutsche Wiedervere­inigung: Hier erscheine die Entwicklun­g von den Leipziger Montagsdem­os über den Mauerfall bis zur Einheitsfe­ier am 3. Oktober 1990 im Rückblick fast als Automatism­us – dabei hätte alles auch ganz anders kommen können.

Viele Mythen kommen und gehen, manche werden auch gezielt dekonstrui­ert – so die Idee der „Stunde Null“bei Kriegsende. Die 68er gingen dagegen heftig an. Ihr Argument: Viele Wirtschaft­sgrößen, Juristen und sogar Nazi-Funktionär­e hatten sich aus dem „Dritten Reich“in die Bundesrepu­blik hinüberger­ettet. Von einem völligen Neuanfang könne also keineswegs die Rede sein. Mit der Zeit setzte sich diese Sicht weitgehend durch. Dabei, so argumentie­rt der Wirtschaft­shistorike­r Werner Plumpe in einem Beitrag für den Ausstellun­gskatalog, spricht vieles eben doch für einen radikalen Schnitt: Die Bonner Republik – demokratis­ch, westlich, katholisch – hatte mit dem Deutschen Reich nicht mehr viel zu tun.

Keine identitäts­stiftenden Mythen hat bislang Europa entwickelt, wie die Ausstellun­gsmacher feststelle­n müssen. Versuche, die EU als Friedensga­rant oder Wertegemei­nschaft darzustell­en, fänden kaum Widerhall. Der polnische Historiker Wlodzimier­z Borodziej kann sich allerdings vorstellen, dass die EU zum Mythos würde, sobald es sie nicht mehr gäbe: Im Rückblick würde sie dann womöglich als das Goldene Zeitalter erscheinen, als Epoche politische­r Freiheit, friedliche­r Zusammenar­beit und großen Wohlstands.

Bis 14. Oktober. Dienstag bis Freitag: 9 bis 19 Uhr; Samstag und Sonntag: 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Informatio­nen unter www.hdg.de

 ??  ??
 ?? FOTO: HAUS DER GESCHICHTE DER BUNDESREPU­BLIK DEUTSCHLAN­D / AXEL THÜNKER ?? Der „Basta-Kanzler“Gerhard Schröder und ein US-Panzer: Ironisch greift der Entwurf eines Karnevalsw­agens für den Düsseldorf­er Rosenmonta­gszug 2003 das deutsche Selbstbild als Vorreiter für den Frieden auf.
FOTO: HAUS DER GESCHICHTE DER BUNDESREPU­BLIK DEUTSCHLAN­D / AXEL THÜNKER Der „Basta-Kanzler“Gerhard Schröder und ein US-Panzer: Ironisch greift der Entwurf eines Karnevalsw­agens für den Düsseldorf­er Rosenmonta­gszug 2003 das deutsche Selbstbild als Vorreiter für den Frieden auf.
 ?? FOTO: ZEITGESCHI­CHTLICHES
FORUM LEIPZIG / PUNCTUM / KOBER ?? „Der Kniende“von Stefan Balkenhol – der Beitrag zum Wettbewerb für ein Freiheits- und Einheitsde­nkmal in Berlin hat 2010 in der zweiten Runde den zweiten Platz erreicht.
FOTO: ZEITGESCHI­CHTLICHES FORUM LEIPZIG / PUNCTUM / KOBER „Der Kniende“von Stefan Balkenhol – der Beitrag zum Wettbewerb für ein Freiheits- und Einheitsde­nkmal in Berlin hat 2010 in der zweiten Runde den zweiten Platz erreicht.
 ?? FOTO: ZEITGESCHI­CHTLICHES FORUM
LEIPZIG / PUNCTUM / BERTRAM KOBER ?? Das in der DDR produziert­e „Schiebepuz­zle“sollte auf kindgerech­te Weise die Erinnerung an die „Befreiung durch die siegreiche Sowjetunio­n“bewahren.
FOTO: ZEITGESCHI­CHTLICHES FORUM LEIPZIG / PUNCTUM / BERTRAM KOBER Das in der DDR produziert­e „Schiebepuz­zle“sollte auf kindgerech­te Weise die Erinnerung an die „Befreiung durch die siegreiche Sowjetunio­n“bewahren.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany