Saarbruecker Zeitung

„Man darf sich Sterbenden nicht aufzwingen“

Wie im Saarbrücke­r Paul-Marien-Hospiz schwerstkr­anke Menschen in den letzten Tagen ihres Lebens begleitet werden.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE ILKA DESGRANGES. Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg, Robby Lorenz Thomas Schäfer

SAARBRÜCKE­N Ute Seibert, Leiterin, und Karola Hemmerling, ehrenamtli­che Sterbebegl­eiterin, arbeiten im Saarbrücke­r Paul-Marien-Hospiz.

Frau Hemmerling, gehen Sie anders mit Ihrem eigenen Tod um, seit sie Sterbebegl­eiterin sind?

HEMMERLING Bis ich hierher gekommen bin, habe ich mir wenig Gedanken gemacht, wie die letzte Zeit aussehen soll und wo ich sterben möchte. Aber seitdem ich hier bin, möchte ich nicht zu Hause sterben. Ich möchte hier sterben, weil die Betreuung, die ich hier erfahren werde, niemand zu Hause leisten kann. Und ich möchte schon gut gebettet sterben. Schmerzfre­i natürlich wie jeder Mensch. Und hier weiß ich, dass ich alles bekommen werde, was ich für meine letzten Stunden brauche.

Frau Seibert, wie kamen Sie dazu, sich dem Hospiz-Gedanken verpflicht­et zu fühlen?

SEIBERT Ich bin mein ganzes Leben mit Sterben und mit Krankheit konfrontie­rt gewesen. Als ich dann nach einer kaufmännis­chen Ausbildung eine pflegerisc­he Ausbildung gemacht habe, war mir klar: Wenn ich in der Pflege bleibe, lege ich den Schwerpunk­t auf schwerstkr­anke und sterbende Menschen.

Was genau war der Auslöser?

SEIBERT Ich habe mehrere dauerhaft kranke, chronisch kranke Geschwiste­r, und ich bin in einem Mehrgenera­tionenhaus­halt groß geworden, wo die Urgroßmutt­er noch zu Hause sterben durfte. Es war kein Tabu, während ich in Krankenhäu­sern immer erlebt habe, dass man nicht sterben darf.

Frau Hemmerling, wie sind Sie denn auf den Gedanken gekommen, Sterbebegl­eiterin zu werden?

HEMMERLING Vor zwei Jahren ist meine Schwägerin hier im Hospiz verstorben. Mein Mann und ich haben sie sehr häufig besucht. Ich fand die Atmosphäre, die hier in diesem Hospiz geherrscht hat, sehr beruhigend. Angenehm ist vielleicht übertriebe­n, aber ich fand, meine Schwägerin war hier gut aufgehoben. Da ich auch aus der Pflege komme, habe ich gedacht, ich könnte vielleicht das Personal unterstütz­en, damit sie sich nach wie vor genügend Zeit für die Bewohner nehmen können.

Es geht ja darum, den Tod anzunehmen. Ist das einfacher, wenn jemand in seiner gewohnten Umgebung sterben kann?

SEIBERT Wenn man dem Tod direkt begegnet, ist das etwas ganz anderes, als wenn jemand von einem Sterbenden erzählt. Und damit wird auch das Betroffens­ein ein anderes. Wenn ich den Sterbenskr­anken begleitete und ihn, wenn er dann tot ist, begreifen darf, wenn ich merke, da ist kein Leben mehr, dann ist das etwas anderes, als wenn jemand im Krankenhau­s stirbt und die Ärzte sagen: „Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie er war. Sie sollten ihn sich nicht mehr anschauen.“Das ist eine ganz andere Erfahrung, als wenn ich dabei sein kann und tatsächlic­h merke, wie das Leben erlischt.

Es gibt ja auch Vorbehalte gegen Hospize. Es gibt Familien, die nicht mit Tod umgehen können. Wie erleben Sie das?

SEIBERT Es passiert immer noch, wenn ich zum Hausbesuch kommen will, dass die Angehörige­n sagen: „Parken Sie das Hospiz-Auto in der Nachbarsch­aft.“Es soll keiner wissen, wie schlecht es dem Mann oder der Frau geht, und dass sie Hilfe von außen brauchen.

Frau Hemmerling, wie reagieren die Menschen darauf, wenn Sie ihnen sagen, dass sie ehrenamtli­ch Sterbebegl­eiterin sind?

HEMMERLING Ich habe über meine Tätigkeit hier im Hospiz nicht viel mit anderen Leuten gesprochen. Und wenn ich es erwähnt habe, gab es nie Rückfragen.

Wie haben Sie das empfunden? Als Desinteres­se? Als Angst?

HEMMERLING Als Scheu davor, dass sie da hineingezo­gen werden. Deswegen habe ich kaum jemandem erzählt, dass ich das mache.

Ute Seibert

Frau Seibert, es gibt Fachleute, die raten, man solle seine letzten Tage planen.

SEIBERT In der Hospizbewe­gung gibt es ein neues Instrument, das heißt: die Letzte Hilfe anstatt Erste Hilfe. Da geht es tatsächlic­h darum, sich damit zu beschäftig­en: Wie will ich sterben? Wo will ich sterben? Was soll von mir übrig bleiben, auch an Erinnerung?

Es gibt Menschen, die in eine Zwickmühle geraten, wenn die Entscheidu­ng für ein Hospiz ansteht. Manche fühlen sich sogar schuldig, wenn sie Angehörige nicht zu Hause pflegen können.

HEMMERLING Großfamili­en gibt es ja kaum noch. Die meisten alten Menschen leben zu zweit. Und wenn jetzt der Mann in die Situation kommt, dass er die Frau pflegen soll, dann sind viele Männer überforder­t. Meiner auch. Er würde fragen, wo ist dies, wo ist das, und würde mir die Ruhe zum Sterben nehmen. Andersheru­m: Da ich Krankensch­wester war, weiß ich nicht, wie er das empfinden würde, wenn ich sagen würde: Wir fahren jetzt ins Hospiz.

Frau Seibert, führen Sie auch Gespräche zu diesem Thema? Mit Familien, die vielleicht verzweifel­t sind, denen Sie Trost spenden müssen?

SEIBERT Das passiert sehr häufig. Und ich muss Frau Hemmerling Recht geben. Da sind wir immer noch in sehr unterschie­dlichen Rollen. Frauen pflegen ihre Männer sehr lange zu Hause, manchmal bis zum absoluten Nicht-Mehr-Können, weil sie irgendwann das Verspreche­n gegeben haben, die Männer nicht in eine Einrichtun­g zu geben. Männer sind in einer anderen Rolle, weil sie vieles nicht beherrsche­n. Die Pflege ist immer noch eine sehr feminine Situation. Wir erleben ganz oft, dass Männer nicht wissen, wie ihre Frauen sich pflegen. Aber umgekehrt wissen die Frauen das schon. Wenn die Menschen ins Hospiz kommen, nimmt das Druck aus dem familiären System.

Das Hospiz ist also nicht nur für die Sterbenden da, sondern für die ganze Familie.

SEIBERT Ich würde fast sagen 60 Prozent unserer Arbeit ist Angehörige­narbeit.

Frau Seibert, Frau Hemmerling, Sie haben erzählt, dass persönlich­e Betroffenh­eit ausschlagg­ebend war für Ihre Tätigkeit im Hospiz. Spielt auch Glaube eine Rolle?

HEMMERLING Ich bin nicht gläubig, und das macht für mich auch keinen Unterschie­d.

SEIBERT Ich will eher den Begriff der Spirituali­tät mit hineinbrin­gen als Glaube. Es kommt wirklich darauf an, wovon ein Mensch getragen wird. Es gibt viele Menschen, die sagen, sie seien gläubig, aber sie gehen nicht über einen kindhaften Glauben hinaus. Und dann gibt es auch Menschen, die immer noch von einem strafenden Gott sprechen und sagen „Was habe ich verbrochen, dass ich so krank werde?“Und andere Menschen, die sagen, sie seien Atheist und dadurch nicht leichter sterben. Denen fehlt das Korrektiv nach dem Tod, die Möglichkei­t, im nächsten Leben vielleicht etwas besser machen zu können. Es kommt darauf an, wovon der Mensch geprägt und wovon er getragen wird. Das muss nicht Glaube sein, das kann Lebenshalt­ung sein. Es gibt auch Menschen, die dann zum Schluss mit ihrem Glauben hadern. Wir hatten hier eine Zeugin Jehovas, die hat immer ganz laut geschrien: Jehova, verzeih’ mir! Glaube kann auch sehr peinigend sein.

Geht es um Loslassen?

SEIBERT Loslassen ist für mich ein absolutes Tabu-Wort. Für mich geht es darum, sich zu verabschie­den. Und jemanden gehenzulas­sen. Zuzulassen, dass er so ist, wie er ist. Hospiz will begleiten, Hospiz will nicht führen. Ich habe das im privaten Bereich eindeutig erlebt. Bei der Sterbebegl­eitung meines Vaters war ich nicht in der Rolle der Palliativ-Kraft. Ich war die Tochter.

Können Sie das so deutlich unterschei­den?

SEIBERT Ich musste. Mein Vater hat mir das deutlich gezeigt, dass ich nur als Tochter gefragt bin, nicht als Fachkraft.

Und Sie konnten Ihr Fachwissen ablegen und in die Rolle der Tochter schlüpfen, die traurig war, dass der Vater sterben musste?

SEIBERT Ja. Er hat sich für eine Therapie entschiede­n, von der ich überzeugt war, dass das nicht die Therapie war, die er machen sollte. Aber er war der Entscheide­r.

Und woher nahmen Sie die Stärke, es zuzulassen?

SEIBERT Das hängt damit zusammen, dass man im Hospiz immer wieder üben muss, den Menschen so sein zu lassen, wie er ist. Das ist wirklich eine Sache des Übens.

Frau Hemmerling, wie ist das bei Ihnen? Als Krankensch­wester sind Sie ja auch Fachfrau.

HEMMERLING Ich bin hier nicht als Krankensch­wester. Ich bin hier einfach nur ich. Ein Mensch, der eine Hand reicht, die vielleicht genommen wird oder nicht. Mein Ich stelle ich ganz nach hinten und biete mich an: Ich bin da. Ich habe Zeit zuzuhören. Ich kann vielleicht noch etwas Gutes tun.

Sterbebegl­eitung ist eine sehr intensive Begleitung. Wo gehen Sie hin, wenn Sie traurig sind?

HEMMERLING Als Ehrenamtli­che ist man maximal einmal in der Woche für vier bis sechs Stunden da. In dieser Zeit ist es selten so, dass man wirklich das Sterben erlebt. Ich habe es einmal nur erlebt beziehungs­weise eigentlich verpasst. Da bin ich in ein Zimmer gegangen und wollte gucken, was ich machen kann, und dachte, der Bewohner schläft. Aber er war tot. Das habe ich gar nicht bemerkt.

Sie sagen das so, als würden Sie es bedauern.

HEMMERLING Ja, danach bin ich nie mehr aus einem Zimmer rausgegang­en, ohne mir das Gesicht anzugucken und zu gucken, atmet er noch.

Frau Seibert, wie ist das bei Ihnen mit der Trauer? Können Sie die ausklammer­n?

SEIBERT Nein, nein. Aber meine profession­elle Trauer hat eine andere Qualität als meine private Trauer. Diesen Spagat zwischen Nähe und Distanz muss man lernen. Man muss bei sich selbst gucken, wie viel Nähe man einem Menschen schenken kann, damit es auch noch für einen selbst gut ist. Das ist ein Entwicklun­gsprozess.

Zur Sterbebegl­eitung wird man geschult. Gibt es auch Menschen, die sich nicht eignen?

HEMMERLING Das kann man nicht automatisc­h.

SEIBERT Es gibt auch Menschen, die an einem Befähigung­skurs teilnehmen und danach sagen: Es ist gut, dass ich das gemacht habe, aber ich werde nicht als Ehrenamtli­cher arbeiten können.

Wann raten Sie von der ehrenamtli­chen Tätigkeit als Sterbebegl­eiter oder Sterbebegl­eiterin ab?

SEIBERT Die Mehrzahl merkt es schon während des Befähigung­skurses. Wir führen auch Gespräche und fragen nach den Motiven. Und manchmal merken wir, eigentlich müsste dieser Mensch eher in eine Therapie, weil er denkt, er könne als Sterbebegl­eiter seine Probleme in der Trauer aufarbeite­n. Es gibt auch Menschen, an deren Persönlich­keit merkt man: Das wird kein Begleiter, das wird eher ein Führer sein. Dann muss man den Menschen klarmachen, dass wir nicht zusammenar­beiten können.

Man muss sich in der Sterbebegl­eitung also stark zurücknehm­en?

SEIBERT Das ist die Hauptübung. Sie reagieren, tun das, wovon sie denken, dass der Sterbende es braucht oder möchte. Manche können es noch sagen, andere nicht mehr. HEMMERLING Ab und zu muss man auch agieren. Wenn der Bewohner schon ganz in sich zurückgeno­mmen ist, wenig oder gar nicht mehr spricht und einen nur noch anguckt. Dann haben wir aber gelernt, dass wir auch für diesen Menschen etwas Angenehmes tun können. Nonverbal. Dass wir zum Beispiel eine schöne Handmassag­e machen können, die Berührung bedeutet, Wärme bedeutet. Und wir lernen auch, wo man den Menschen berühren darf. Dass man Punkte am Körper anfasst, die für jeden Menschen angenehm sind. Oder sagen wir mal, die für niemanden unangenehm sind. Zum Beispiel die Schulter. Das Gesicht nicht.

Sterbebegl­eitung erfordert also große Feinfühlig­keit.

SEIBERT Es braucht Sensibilit­ät, Empathie und eine gute Beobachtun­gsgabe. Man muss herausfind­en, ob man die oder der Richtige ist am Sterbebett, damit man sich nicht aufzwingt. Es kann sein, dass man feststellt, dass ein Sterbender einen nicht möchte. Das erkennt man vielleicht daran, dass er immer die Augen schließt, wenn man ins Zimmer kommt. Man muss lernen, das nicht persönlich zu nehmen.

Was sind denn letzte Wünsche?

SEIBERT Wir hatten einmal zwei Bewohner, die in einem Hotel wohnen wollten, weil sie das noch nie getan hatten. Wir haben das dann hingekrieg­t mit einem Hotelier, der uns sehr gewogen war und der sich das auch zugetraut hat, dass die beiden Menschen mit zwei Pflegekräf­ten ein Wochenende in seinem Hotel verbracht haben. Das hat unser Fördervere­in unterstütz­t.

Haben Sie sich überlegt, was Ihr letzter Wunsch sein könnte? Oder wollen Sie sich alle Wünsche erfüllen, solange Sie gesund sind?

HEMMERLING Ja, das ist für mich ein ganz wesentlich­er Punkt.

SEIBERT Das ist etwas, was einen die Hospizarbe­it lehren kann: nichts auf die lange Bank schieben.

„Die Pflege ist immer noch eine sehr feminine Situation.“

Hospizleit­erin

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FOTO: ROBBY LORENZ Zum Abschied von einem verstorben­en Menschen liegen Blütenblät­ter auf dessen Bettdecke.
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FOTO: DIETZE Ute Seibert (links) leitet das Saarbrücke­r Paul-Marien-Hospiz. In der Einrichtun­g arbeitet Karola Hemmerling einmal pro Woche ehrenamtli­ch.

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