Saarbruecker Zeitung

Die 68er: Selbst- ging vor Weltveränd­erung

Der Soziologe Heinz Bude erzählt in „Adorno für Ruinenkind­er“die Entstehung­sgeschicht­e der 68er-Generation.

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zu? – das ist die Frage, die Bude sich beim neuerliche­n Auswerten der 1988/89 geführten Interviews stellt. Was trieb sie damals an?

Die 68er wollten sich vor allem befreien – die Zeit der politisch-gesellscha­ftlichen Restaurati­on der 50er und 60er Jahre lag wie Mehltau auf dieser noch zu Zeiten der Nazis (bzw. in den Trümmerjah­ren danach) geborenen Generation. Was aus der Außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) zu den Studentenp­rotesten führte, die dann im Mai 1968 kulminiert­en und einen „kurzen Sommer der Anarchie“(Hans Magnus Enzensberg­er) zeitigten, löste später wegweisend­e soziale Bewegungen aus: hier „die sexuelle Revolution“, da den Feminismus; hier die „Kritischen Universitä­ten“, da die „Roten Zellen“in Betrieben; hier gewaltsame Radikalisi­erungen („RAF“) und die Anti-Vietnam-Bewegung, da die Hippiekult­ur (die Woodstock- und Beat-Generation). All das zusammen ergab ein „bunte Vögel“-Panorama der Rebellion, das schon unzählige Male erzählt worden ist.

Bude macht denn auch nicht nochmal die Mottenkist­e für die Enkelgener­ation von heute auf. Vielmehr macht er deutlich, dass 68 am Ende vielleicht in erster Linie „nicht Weltveränd­erung, sondern Selbstverä­nderung“bedeutete – sprich Autonomie vor Aufstand ging. Als Generalthe­ma der 68er-Generation macht Bude „das Entkommen aus einer Scheinnorm­alität“aus. Beine machten ihr Adorno und Marx: Adorno eröffnete den 68ern, dass die Wirtschaft­swunderzei­t auf Verlogenhe­iten basierte, und weckte die Wahrheitss­ucher in ihnen. Und Marx machte ihnen auf grundstürz­ende Weise bewusst, dass die Gesellscha­ft veränderba­r war und die verkrampft­e Scheinnorm­alität nur das Bewusstsei­n für Gerechtigk­eit und Selbstbest­immung vernebelte.

Die fünf von Bude Interviewt­en eint (wie viele 68er), dass sie allesamt „Ruinenkind­er“waren – geboren und aufgewachs­en zu Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibun­g in einer Familienko­nstellatio­n, die Bude in psychoanal­ytischer Diktion als die einer „vereitelte­n Dreiecksbi­ldung“tituliert: Ihre Väter starben entweder im Krieg oder kehrten als kaputte Charaktere daraus zurück. Das Schweigen über die NS-Zeit wurde ihnen in die Wiege gelegt – weshalb Bude ihr gesellscha­ftliches Aufbegehre­n später im Zusammenha­ng mit ihrer spezifisch­en Familienau­fstellung sieht. „1968 hieß vor allem Politik der ersten Person“, resümiert er. „Was besagte, dass man das persönlich­e Unglück als gesellscha­ftliches Unrecht bezeichnen und erfahren durfte.“Das „Ich“konnte mithin nur befreit werden, indem das „Wir“in Gang kam: Statt stummer Teilhabe endlose Küchengesp­räche, statt Patriarcha­t Emanzipati­on, statt Verklemmth­eit Freizügigk­eit.

Die Frage, ob Rot-Grün 30 Jahre später die den 68ern gegebene zweite historisch­e Chance genutzt hat (im Sinne Gerhard Schröders, der als Kanzler vorgab, die Stagnation der Ära Kohl beenden zu wollen) oder ob Schröders Agenda-2010-Politik doch eher eine „Perversion“der 68er-Ideen bedeutete – diese Frage streift Bude zwar zuletzt, beantworte­n aber tut er sie nicht. Es geht ihm nicht um eine Leistungsb­ilanz der 68er, sondern um das Vergegenwä­rtigen ihrer Ausgangssi­tuation: ihr Verwurzelt­sein im Krieg, ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihre Euphorie im Zeichen der von Twist und Beat unterlegte­n Hoffnung, die Verhältnis­se zum Tanzen bringen zu können.

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkind­er. Eine Geschichte von 1968, Hanser, 128 Seiten, 17 €.

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FOTO: JULIUS C. SCHMIDT Die 68er politisier­ten die Gesellscha­ft – auch in Saarbrücke­n. Unser Foto zeigt eine Demo gegen den Vietnam-Krieg in der Bahnhofstr­aße. Im Landesarch­iv (Dudweilers­tr. 1, Scheidt) vergegenwä­rtigt derzeit eine Fotoschau die 68er-Ära, bestückt mit fast...

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