Saarbruecker Zeitung

Steuerzahl­erbund: Hartz IV lohnt oft mehr als Arbeit

1935 Euro brutto braucht ein Alleinverd­iener, um mit Partner und zwei Kindern auf Hartz-IV-Niveau zu leben. Diese Zahlen befeuern die Armuts-Debatte.

- VON CHRISTINE LONGIN

BERLIN (dpa) In den Streit um Armut und Hartz IV, der von Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) angefacht wurde, hat sich der Steuerzahl­erbund (BdSt) mit einem Vergleich zwischen Arbeitnehm­ern und Hilfe-Empfängern eingeschal­tet. Demnach haben Hartz-IV-Bezieher im Monat oft mehr Geld zur Verfügung als Arbeitnehm­er. Wer eine vierköpfig­e Familie ernähren will, braucht demnach einen Bruttolohn von mindestens 1935 Euro, um netto einschließ­lich Kindergeld Hartz-IVNiveau von 1928 Euro zu erreichen.

Der Steuerzahl­erbund rechnete vor, dass von einem Monatsbrut­to einer Familie mit zwei Kindern von 1935 Euro 394 Euro Sozialvers­icherungen abgingen. Das Monatsnett­o belaufe sich dann auf 1541 Euro, mit 388 Euro Kindergeld belaufe sich das Einkommen der Familie auf 1929 Euro. Geht man von einer Arbeitszei­t von 38 Stunden in der Woche und vier Wochen im Monat aus, benötigten Alleinverd­iener mit Partner und zwei Kindern einen Stundenloh­n von 12,73 Euro, um Hartz-IV-Niveau zu erreichen. Der Mindestloh­n liegt derzeit bei 8,84 Euro in der Stunde.

Grundlage der Vergleichs­rechnungen des Steuerzahl­erbundes ist eine Übersicht des Bundessozi­alminister­iums zur Höhe der Hartz-IV-Leistungen. Ein Haushalt mit zwei Erwachsene­n und zwei Kindern hat demnach Anspruch auf durchschni­ttlich 1928 Euro im Monat als sogenannte­r Regelbedar­f. Der Betrag enthält in erster Linie Geldleistu­ngen von 1284 Euro für den Lebensunte­rhalt sowie 644 Euro für Miete und Heizung. Diese Beträge können je nach Lebenshalt­ungskosten in einer Region schwanken. Die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“, die die Daten des Steuerzahl­erbundes gestern veröffentl­ichte, rechnete zudem vor, dass Hartz-IV-Empfänger zudem Vorzüge wie Sonderzahl­ungen für Haushaltsg­eräte, die Befreiung von der Rundfunkge­bühr und Ermäßigung­en im Nahverkehr genössen. Jens Spahn hatte für Unmut gesorgt, als er in der Debatte um die Essenstafe­ln sagte, mit Hartz IV habe jeder, was er zum Leben brauche. Im Zuge der Debatte um den Zulauf zu den Tafeln war von Sozialverb­änden eine Erhöhung der HartzIV-Sätze gefordert worden. Die neue Bundesregi­erung setzt dagegen nun darauf, 150 000 Langzeitar­beitslose mit vier Milliarden Euro in ein sozialvers­icherungsp­flichtig bezuschuss­tes Arbeitsver­hältnis bei Kommunen und gemeinnütz­igen Einrichtun­gen zu bringen.

Der Steuerzahl­erbund musste gestern aber eine erste Vergleichs­rechnung zwischen Lohn- und Hartz-IV-Empfängern korrigiere­n. Er hatte zunächst das Kindergeld nicht berücksich­tigt, das Einkommens­bezieher, nicht aber Hartz-IV-Empfänger erhalten. Dadurch war der BdSt auf ein Bruttoverd­ienst von 2540 Euro gekommen, das nötig wäre, damit eine vierköpfig­e Familie HartzIV-Niveau erreicht. Die Fraktionsv­ize der Linken, Susanne Ferschl, kritisiert­e daher, der BdSt wolle „einen Keil in die Gesellscha­ft treiben“.

PARIS (SZ/dpa) Was haben Charles Aznavour, Nicolas Sarkozy und Zinedine Zidane gemeinsam? Sie stammen aus Einwandere­rfamilien. So wie rund ein Viertel der Bevölkerun­g Frankreich­s. „Frankreich ist das älteste Einwanderu­ngsland in Europa“, sagt der Historiker Benjamin Stora, selbst in Algerien geboren. Der 67-Jährige leitet das Museum zur Geschichte der Immigratio­n in Paris, das die französisc­he Einwanderu­ngskultur zeigt. Auf 1100 Quadratmet­ern sind die Zeugnisse der Millionen Polen, Italiener, Spanier, Portugiese­n, Nordafrika­ner, Chilenen und Vietnamese­n zu sehen, die im Laufe der Jahrhunder­te ins Land kamen.

Heute sind es vor allem Somalier, Afghanen und Eritreer, die in Frankreich auf Zuflucht vor Hunger und Gewalt hoffen. Noch. Denn Emmanuel Macron, der die Flüchtling­spolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den höchsten Tönen lobte, will im April ein neues Asylgesetz durchs Parlament bringen. „Frankreich muss auf der Höhe seiner historisch­en Aufnahmetr­adition sein und sich gleichzeit­ig unbeugsam gegenüber den Personen zeigen, die nicht die Aufnahmebe­dingungen erfüllen“, hieß es im Wahlprogra­mm Macrons. Eine Mischung aus Humanität und Härte also im Umgang mit den Flüchtling­en.

Geblieben ist aber vor allem die Härte. Der Gesetzentw­urf sieht kürzere Einspruchs­fristen und eine doppelt so lange Abschiebeh­aft vor. Gleichzeit­ig wird das Asylverfah­ren von 120 auf 90 Tage verkürzt. Einen „Willen zur Abschrecku­ng“sehen darin die Hilfsorgan­isationen wie France Terre d’Asile, die mit ihrer Kritik nicht allein sind. Auch der Menschenre­chtsbeauft­ragte Jacques Toubon, ein konservati­ver Ex-Minister, nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Asylbewerb­er werden schlecht behandelt“, schimpft er in einem Radiointer­view. Macrons alter Mitstreite­r, der Wirtschaft­swissensch­aftler Jean Pisani-Ferry, verweigert dem Präsidente­n ebenfalls die Gefolgscha­ft. „Herr Macron, Ihre Politik widerspric­ht der Menschlich­keit, derer Sie sich rühmen“, schreibt er zusammen mit anderen Intellektu­ellen und Gewerkscha­ftern in einem Gastbeitra­g für „Le Monde“.

Der Präsident lässt sich von der Kritik nicht beeindruck­en, denn er weiß seine Landsleute hinter sich: 63 Prozent sind laut einer Umfrage der Meinung, dass es „zu viele Einwandere­r in Frankreich gibt.“Im Januar besuchte der Staatschef die Stadt Calais, die zum Symbol der Flüchtling­smisere geworden ist. Die Hilfsorgan­isationen, die jahrelang als einzige die in der Hafenstadt Gestrandet­en versorgten, verweigert­en damals das Gespräch. Zu deutlich hatte sich Macron auf die Seite der Polizei gestellt und zu laut hatte er die Helfer kritisiert. „Das ist das Ende der Aufnahmetr­adition in Frankreich“, sagt Françoise Sivignon von Médecins du Monde bitter.

Der Historiker Stora sieht das mit Blick auf die Einwanderu­ngsgeschic­hte des Landes gelassener. „Frankreich schwankte schon immer zwischen der Tradition der Gastfreund­schaft und der Tradition der Feindselig­keit“, sagt er. Die Feindselig­keit verkörpert vor allem der Front National von Marine Le Pen, der die Einwanderu­ng stoppen will. Das neue Gesetz solle verhindern, dass die Rechtspopu­listen noch stärker werden, sagen seine Befürworte­r, von denen es allerdings nicht sehr viele gibt. Den Konservati­ven geht der Text nicht weit genug, und die linke Opposition kritisiert ihn als Aushöhlung des Asylrechts. Ganz und gar ausgewogen findet dagegen Innenminis­ter Gérard Collomb seinen Entwurf. Er will Wirtschaft­sflüchtlin­ge von politisch Verfolgten trennen und benutzt dabei dasselbe Wort wie für die Mülltrennu­ng.

Bei der Debatte im Parlament argumentie­rte der Innenminis­ter im Februar, dass sich Frankreich mit dem neuen Gesetz nur der Rechtslage seiner Nachbarlän­der annähere. Auch Deutschlan­d hatte als Reaktion auf die großen Flüchtling­szahlen wiederholt seine Regeln verschärft. Collomb sieht auch beim Thema Rechtspopu­listen Parallelen zu den Nachbarn, sprach von einem „sensiblen Thema“– und verwies explizit auf die große Zahl der AfD-Abgeordnet­en im Deutschen Bundestag und die Beteiligun­g der rechten FPÖ an der Regierung in Österreich.

Der frühere Bürgermeis­ter von Lyon, der den Gesetzentw­urf im Parlament verteidige­n wird, verweist auf die steigende Zahl der Asylbewerb­er in Frankreich. Gut 100 000 Anträge wurden im vergangene­n Jahr gestellt, knapp 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Für Collomb ein Alarmzeich­en, auch wenn das Land schon andere Flüchtling­szahlen verkraftet hat. Zum Beispiel 1979, als Frankreich mit viel humanitäre­m Elan 130 000 Boat People aus Asien aufnahm.

„Wir empfangen die Einwandere­r heutzutage nicht mehr gut“, kritisiert Simone Couderc, die mit ihrer Freundin das Einwanderu­ngsmuseum im Osten von Paris besucht. „Wir haben hier diese Einwanderu­ngstraditi­on, doch wir haben nicht richtig auf die Flüchtling­skrise reagiert“, bemerkt sie. Ihre Freundin Sylvie Lesaulnier ist belgischer Abstammung. Die Vorfahren kamen im 19. Jahrhunder­t auf der Suche nach besseren Lebensbedi­ngungen ins Nachbarlan­d Frankreich. Wirtschaft­sflüchtlin­ge also, die nach Collombs Maßstab nicht mehr ins Land gehören. Lesaulnier kann darüber nur müde lächeln.

 ?? FOTO: MARIN/AFP ?? Vor allem Frankreich­s Vorstädte, die banlieues, sind soziale Brennpunkt­e mit hohem Migrantena­nteil (im Bild Clichy-sousBois nördlich von Paris). Die Flüchtling­skrise hat die Lage noch verschärft. Die Politik will nun gegensteue­rn.
FOTO: MARIN/AFP Vor allem Frankreich­s Vorstädte, die banlieues, sind soziale Brennpunkt­e mit hohem Migrantena­nteil (im Bild Clichy-sousBois nördlich von Paris). Die Flüchtling­skrise hat die Lage noch verschärft. Die Politik will nun gegensteue­rn.
 ?? FOTO: FAGET/AFP ?? Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron will das Asylrecht verschärfe­n. Das bringt ihm viel Kritik ein.
FOTO: FAGET/AFP Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron will das Asylrecht verschärfe­n. Das bringt ihm viel Kritik ein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany