Saarbruecker Zeitung

Ein neuer Blickwinke­l

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Der Karfreitag ist einer von den stillen Tagen im Jahr. Und das nicht nur, weil die Diskotheke­n und Clubs geschlosse­n bleiben, weil nicht gearbeitet wird, die Geschäfte zu sind. Der Karfreitag ist auch deshalb ein stiller Tag, weil einem die Sprache fehlt, über das zu reden, was an diesem Tag Thema ist. Christen aller Konfession­en erinnern sich daran, dass an diesem Tag ein Mensch, Jesus von Nazareth, grausam an ein Kreuz genagelt, sterben musste. Dieser Jesus war nicht einfach nur irgendein Mensch, für die Christen ist er der Sohn Gottes. Und der schreit am Kreuz zu seinem Vater: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“Dieser Schrei bleibt unbeantwor­tet. Gott schweigt. Diese Erfahrung teilt Jesus mit Millionen Menschen durch alle Zeiten hindurch. Warum schweigt Gott, wenn Menschen zu ihm schreien? Warum schweigt er in „himmelschr­eienden“Situatione­n, in denen Menschen unglaublic­hes Leid zugefügt wird? „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“Die Klage Jesu am Kreuz schwebt über Syrien und Afghanista­n, über dem Sudan und dem Jemen, schwebt überall da, wo Menschen leiden und sterben. Und wenn mich heute jemand danach fragt, wo da ein Sinn zu finden sei, muss ich schweigen. Ich persönlich bringe dieses Schweigen am Karfreitag mit in den Gottesdien­st. Ich bringe dieses Schweigen vor Gott. Und vielleicht ist das Schweigen vor Gott die angemessen­e Reaktion auf dieses rätselhaft­e Schweigen Gottes. Menschen, die dieses Schweigen mühsam und geduldig eingeübt haben, sind die Mystiker, Menschen, die sich um eine besondere Beziehung und Erfahrung Gottes bemühen. Einer von ihnen, Johannes vom Kreuz, hat 1574 ein kleines Bild gemalt. Seine Federzeich­nung zeigt den toten Jesus am Kreuz, allerdings aus einer ungewöhnli­chen Perspektiv­e. Der Blick richtet sich von oben auf den Gekreuzigt­en. Das Bild wirkt, als ob Johannes vom Kreuz, als er zeichnete, über dem Kreuz geschwebt hätte. Vor diesem Mystiker hat nie jemand so auf das Kreuz geschaut. Es ist wie eine Vision. Das Bild zeigt nicht den Blick des Menschen auf den gekreuzigt­en Jesus, von vorn oder aufschauen­d von unten. Diese Vision des Johannes zeigt den Blick Gottes, des Vaters, auf den toten Sohn. Der Vater sagt nichts, er schaut auf sein totes Kind und ist, in diesem Blick, im Geist, mit ihm verbunden. Die Federzeich­nung Jesu aus der Vogelpersp­ektive drückt aus, dass Jesus auch im Tod nicht verloren ist, solange ihm jemand verbunden ist. Ich weiß nicht, wie lange der Zeichner gebraucht hat, um die Haltung zu finden, dieses Bild malen zu können. Das Neue daran ist der Blickpunkt. Dieser Blick erspart ihm Worte. Unermessli­ches menschlich­es Leid erklären zu wollen, wird scheitern. Gottes Untätigkei­t rechtferti­gen zu wollen in noch so spitzfindi­gen theologisc­hen Gedanken, wird scheitern. Mag sein, dass man am Karfreitag nur durch Schweigen zwar keine Antwort, aber einen neuen Blickwinke­l auf die alten Fragen bekommt.

Der Autor ist Rundfunkbe­auftragter des Bistums Trier beim Saarländis­chen Rundfunk.

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