Saarbruecker Zeitung

„Jeder soll das machen, worauf er Lust hat“

Behinderte­nbeauftrag­te Dunja Fuhrmann lässt sich nicht gern in eine Schublade stecken. Ihr größter Spaß ist das Leben selbst.

- DIE FRAGEN STELLTE NINA DROKUR

SAARBRÜCKE­N Zu viel Kopfsteinp­flaster, zu wenig bezahlbare­r Wohnraum – in Sachen Barrierefr­eiheit gibt es in Saarbrücke­n noch einige Stolperste­ine. Was heißt eigentlich Barrierefr­eiheit, wem hilft sie am meisten, und wo liegen die größten Probleme? Die SZ hat sich in der neuen Serie „Barrierefr­eies Saarbrücke­n“mit diesen Fragen beschäftig­t, Menschen mit unterschie­dlichen Behinderun­gen in ihrem Alltag begleitet und sich aktuelle Problemfäl­le angeschaut. Zum Auftakt hat unsere Autorin mit Dunja Fuhrmann gesprochen. Mit 16 Jahren löste eine zu spät behandelte Borreliose eine Rückenmark­serkrankun­g bei ihr aus. Seitdem sitzt die heute 38-Jährige im Rollstuhl. Seit 2006 ist Dunja Fuhrmann Behinderte­nbeauftrag­te der Landeshaup­tstadt Saarbrücke­n.

Frau Fuhrmann, was ärgert Sie?

Ich ärgere mich über Intoleranz, über Fremdbesti­mmung, über diesen Aspekt des Fürsorgege­dankens, also dass ein Mensch mit Behinderun­g oft in passiv, leidender Form dargestell­t wird. Ich ärgere mich, wenn ich Berichte lese, wo es heißt: „Er ist an den Rollstuhl gefesselt“oder „Er leidet unter Multipler Sklerose“. Man lebt mit einer Erkrankung oder einer Behinderun­g, wo man auch mal unter Schmerzen leidet. Aber an und für sich geht es um den Menschen. Die Behinderun­g ist ja nicht das, was einen Menschen komplett ausmacht. Sie ist ein Teil von ihm. Dem kann man begegnen durch Hilfsmitte­l, mit persönlich­er Assistenz und indem man alle Dinge dafür tut, um Barrierefr­eiheit umzusetzen. Es ärgert mich auch, wenn Barrierefr­eiheit immer nur unter einem Kostenaspe­kt betrachtet wird, statt dass man wirklich den Nutzen sieht und auch die Nachhaltig­keit. Es betrifft ja nicht nur Menschen mit Behinderun­gen.

Wen betrifft es denn noch?

Jeder kann ja in die Lage kommen, von Barrierefr­eiheit zu profitiere­n, sei es, weil er eine Sportverle­tzung hat, weil er mit hochhackig­en Schuhen rumläuft, weil er mit Gepäck unterwegs ist, weil er mit dem Kinderwage­n, mit dem Fahrrad unterwegs ist oder weil er altersbedi­ngt nicht mehr so mobil ist. Das wird leider nie gesehen. Barrierefr­eiheit wird immer nur auf Menschen mit Behinderun­gen reduziert. Das ist ein falscher Gedanke. Man sollte eher über universell­es Design nachdenken, zumal in einer Bevölkerun­g, wo alle älter werden.

Was sind die wichtigste­n Ziele von Barrierefr­eiheit?

Also, sagen wir mal so, Barrierefr­eiheit ist die Grundvorau­ssetzung dafür, dass ein Mensch Dinge ohne fremde Hilfe auf die allgemein übliche Weise nutzen kann, auffinden kann, etwas für ihn zugänglich ist. Ohne Barrierefr­eiheit wird Inklusion und selbstbest­immte Teilhabe nicht möglich sein.

Was sind denn in Ihrem Alltag die größten Barrieren?

Da ich eine Körperbehi­nderung habe, nicht laufen kann und einen Rollstuhl nutze, sind es für mich bauliche Barrieren. Also Stufen, Kopfsteinp­flaster, zu immense Steigungen, schwergäng­ige Türen, enge Durchgänge, alles was mir baulich im Weg steht, dass ich mit meinem Rollstuhl ankomme.

Haben Sie ein Beispiel für Barrieren, an die man als Nicht-Betroffene­r nicht denkt?

Ein fehlendes barrierefr­eies WC in einer Gaststätte vermisst ein Nicht-Betroffene­r nicht. Was auch immer ein Thema ist, sind zum Beispiel Sitzmöbel im Außenberei­ch. Die Gestaltung der Bänke ist immer toll, ergonomisc­h geformt, aber oft fehlen Rückenlehn­en oder Armlehnen, oder sie sind viel zu niedrig. Es sollten in Grünanlage­n auch Bänke oder im Gastronomi­ebereich auch Stühle aufgestell­t werden für Leute, die älter sind, oder Schwangere. Die brauchen einfach eine gewisse Sitzhöhe und auch Armlehnen und eine Rückenlehn­e, damit sie sich selbststän­dig hinsetzen und wieder aufstehen können.

Man spricht in dem Zusammenha­ng oft von „Barrieren in den Köpfen“, sprich: Ignoranz. Wie kann man diese Barrieren abbauen?

Bewusstsei­nsbildung ist nach wie vor sehr wichtig. Aber das allein hilft nicht, sondern es sind ja auch Menschenre­chte, die uns zuerkannt wurden 2009 durch die UN-Behinderte­nrechtskon­vention. Und selbst wenn man die jetzt nicht hätte, steht in unserem Grundgeset­z seit 1994 in Artikel 3 Absatz 3, dass auch niemand aufgrund seiner Behinderun­g benachteil­igt werden darf. Das ist unser Grundgeset­z. Behinderte­nverbände setzen sich derzeit für die Erneuerung des Allgemeine­n Gleichbeha­ndlungsges­etzes ein. Es ist dringend notwendig, dass Anbieter von Dienstleis­tungen und Produkten zur Barrierefr­eiheit verpflicht­et werden. Normalerwe­ise müsste alles dafür getan werden, dass man da Benachteil­igung abbaut. Aber leider ist es häufig so, dass Menschen keine Benachteil­igung in so was sehen.

Keine Benachteil­igung worin sehen? Haben Sie da ein Beispiel?

Es wird oft unter dem Aspekt gesehen: „Man kann ja jemandem helfen.“Oft gibt es irgendwo eine Klingel oder ein Schildchen, auf dem steht: „Wer Hilfe braucht, bitte klingeln.“Dann heißt es: „Wir können Sie ja hochtragen.“Aber man will ja nicht zur Schau gestellt werden. Ich meine, gewisse Hilfsangeb­ote mögen zwar vorübergeh­end eine nette Geste sein, aber das Ding ist ja, jeder soll sich mal selber fragen, ob er von wildfremde­n Menschen getragen werden möchte. Und vor allem, kann das überhaupt leistbar sein? Einen Elektrorol­lstuhl, der 200 Kilogramm wiegt, den trägt man nicht so einfach rum.

Sie sind seit 2006 Behinderte­nbeauftrag­te, was war Ihr größtes Projekt?

Mit eines der größten Projekte war Max-Ophüls. Über drei Jahre lang haben wir immer wieder kritisiert, mit dem Kulturdeze­rnenten, mit der Festivalle­itung gesprochen. Bemängelt, dass das Festival nicht barrierefr­ei ist, dass es keine Filme mit Untertitel­ung gibt, dass es keine mit Audiodeskr­iption gab. Dass die Kinos, in denen die Filme laufen, keine barrierefr­eien Zugänge haben. Da wurden wir nie gehört. Und 2014 haben wir eine große Aktion gemacht, auch gefördert von der Aktion Mensch, wo wir mit mehreren an dem Eröffnungs­abend da waren, wir haben protestier­t. Und ich habe die Bühne gestürmt und konnte dann dort auch eine Rede an das Publikum halten. Dadurch kam es endlich zu einem Umdenken.

Wie sieht das konkret aus?

Es wird sich jetzt bemüht, mit Techniken wie „Greta und Starks“zu arbeiten, einer App, die auf einem mobilen Endgerät Untertitel oder Audiodeskr­iption liefert. Beim Eröffnungs­abend und bei der Preisverle­ihung sind jetzt auch Gebärdendo­lmetscher anwesend, sodass man auch das Drumherum erleben kann, zumindest an den zwei Abenden. Natürlich ist das immer alles mit Geld verbunden, und die Nachwuchsf­ilmer haben das nicht immer, aber da muss man natürlich auch sagen, wenn unser Land und auch unsere Stadt hierfür Gelder lockermach­en, müssen sie definitiv auch Gelder ganz explizit für die Barrierefr­eiheit ausweisen.

Wie war es denn in diesem Jahr? Zu Gast war Samuel Koch, der ja auch

im Rollstuhl sitzt.

Fuhrmann Samuel Koch hat seinen eigenen Film samstags das erste Mal im Kino gesehen, da saß ich neben ihm auf einem der Stellplätz­e. Er war selber sehr überrascht, dass er im Cinestar auf diesem Stellplatz sitzt. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie gehen nicht wie jeder andere in das Kino rein, sondern Sie haben einen extra Zugang mit einem Aufzug, der nur per Schlüssel von einem Mitarbeite­r bedient werden kann, Sie fahren auf eine andere Ebene. Dort haben Sie dann den barrierefr­eien Zugang zu dem Kinosaal. Dort gibt es dann so eine Nische. Direkt vor sich haben Sie eine Eisenstang­e, und an der Seite ist eine Trennwand. Das heißt, man sieht Sie aus dem Publikum da nicht sitzen. Das Problem war, dass ich mit einem Freund da saß und den Film ja mit ihm zusammen gucken wollte. Und Samuel hatte noch einen Assistente­n. Die beiden (mein Freund und der Assistent) mussten dann nach vorne in den Kinosaal. Letztendli­ch war es dann so, dass sie Samuel aus dem Rollstuhl gehoben haben, den über diese Absperrung getragen haben und ihn ganz normal in einem Kinositz platziert haben, den Assistente­n daneben, und ich bin dann auch nach vorne geklettert zum Samuel. Hab’ dann auch im Kinositz gesessen und konnte mir mit meinem Freund das Popcorn teilen. Samuel Koch fand es auch ziemlich scheiße, wie es dort geregelt ist. Aber es ist seit unserer Aktion 2014 ja schon besser geworden. Es geht halt langsam, aber es hat sich zumindest was getan.

Was macht Ihnen am meisten Spaß?

Mein Beruf, mein Leben, mein Engagement. Eigentlich, das Leben macht mir Spaß. Auch wenn man sich oft über viele Dinge aufregt, aber dennoch macht es Spaß.

Ich weiß, dass Sie in Ihrer Freizeit

klettern…

Fuhrmann Nicht regelmäßig. Einmal fehlt mir dazu die Zeit, zweitens kann ich das auch nicht alleine machen, ich brauch’ immer einen Partner, das heißt, spontanes Klettern ist nicht möglich. Und dann habe ich auch noch andere Hobbys: Handbike fahren, Schwimmen, Fitnessstu­dio.

Dadurch, dass Sie so eine außergewöh­nliche Persönlich­keit sind, gibt es viele Medienberi­chte über Sie. In der Gala, beim NDR, von der Aktion Mensch. Hilft Ihnen das?

Kommt drauf an, sagen wir mal so. Ich hab viele Rückmeldun­gen bekommen von Leuten, die mich als Vorbild sehen, so was schmeichel­t dann schon. Aber man kann nicht immer jeden Artikel nachlesen oder bekommt das auch nicht immer geschickt, da ist es manchmal, gerade wenn es um Boulevard-Zeitschrif­ten geht, oft eine Geschichte, wie ich sie nicht haben möchte.

Wie sieht die aus?

Dass der Mensch mit Behinderun­g immer am Leiden ist. Und ich jetzt nur mit dem Schicksal klarkomme, weil ich klettere. Das ist völliger Humbug. Durch die Kampagne der Aktion Mensch ging es in der Hauptsache darum, bewusst zu machen, dass Menschen mit und ohne Behinderun­g keine großen Unterschie­de haben. Dass wir alle Menschen sind, die Hobbys, Träume, Privatlebe­n haben. Diese Aufklärung­skampagne ist schon in die Richtung gegangen, wo für viele vielleicht auch ein Aha-Effekt kam. Teilweise hat es mich schon genervt, dass alle nur über das Klettern geschriebe­n haben, ich will nicht die Klettertan­te sein.

Warum hat das genervt?

Für mich ist das ein Hobby. Kein Leistungss­port, ich möchte auch nicht irgendwie den Mount Everest erklimmen oder so. Sondern hab’ einfach das gemacht, worauf ich Lust hatte. Und fand es cool, dass es klappt. Das ist auch die Botschaft, die ich gerne rüberbring­e. Jeder soll das machen, worauf er Lust hat. Nicht sagen, das geht bestimmt nicht. Sich erst mal nicht davon abbringen lassen, sondern halt überlegen, wie kann man es denn vielleicht machen?

Wie barrierefr­ei ist Saarbrücke­n?

Ich würde die Schulnote 5 geben.

Das ist ziemlich schlecht. Wie kommt’s?

Ja, wir haben ziemlich viel Kopfsteinp­flaster, viele Bushaltest­ellen, die nicht barrierefr­ei sind, Veranstalt­ungssäle, Sportstätt­en, die nicht barrierefr­ei sind, viele Kneipen, die nicht barrierefr­ei sind. Und das sind nur Beispiele zu baulichen Barrieren. Am Staden-Biergarten und am Kulturbier­garten in St. Arnual entstanden zwei barrierefr­eie WC-Anlagen. Ohne Eigeniniti­ative zweier Biergarten­betreiber könnte man nicht mal auf die Toilette gehen. Das Hauptprobl­em im Saarland ist bezahlbare­r, barrierefr­eier Wohnraum. Als Gesamtbehi­ndertenbea­uftragte weiß ich, dass die Nachfrage groß ist und ständig zunimmt. Man muss unterschei­den zwischen barrierefr­ei nutzbar und mit dem Rollstuhl uneingesch­ränkt nutzbar, und gerade bei Letzterem finden Sie nichts. Das liegt daran, dass unsere Landesregi­erung es versäumt hat, den Wohnungsba­u auch für Rollstuhlf­ahrer gesetzlich zu verankern.

Was wäre ein positives Beispiel?

Bei verschiede­nen Ämtern bei der Stadt merkt man, die haben etwas erkannt, die machen sich Gedanken. Gerade auch das Grünamt, was die Spielplatz­gestaltung angeht. Die haben zumindest mal Kategorien erstellt, welche Spielplätz­e sich eignen, zu inklusiven Spielplätz­en gemacht zu werden, aber sonst malen die Mühlen sehr langsam. Auf der einen Seite ist immer das Problem der klammen Kassen, und auf der anderen Seite wurden auch in der Vergangenh­eit ja auch häufig Gelder gar nicht abgerufen, wo im Vergleich andere Städte doch gewiefter waren.

Was kann ich als Bürger oder als Mitmensch tun?

Jeder Zehnte hat eine Behinderun­g, von der Statistik her. Da müsste jeder irgendjema­nden kennen, der eine Behinderun­g hat. Einfach mal mit dieser Thematik beschäftig­en. Vielleicht über die sozialen Netzwerke bei Aktivisten anschauen, worum es geht. Sich einfach mal Gedanken machen, dass Barrierefr­eiheit niemandem etwas wegnimmt, sondern andere mit davon profitiere­n. Rücksicht nehmen. Sich nicht mit dem Auto auf Behinderte­nstellplät­ze stellen. Viele sagen: „Ach, nur gerade zwei Minuten.“Das wirklich sein lassen, weil es Menschen gibt, die wirklich auf die Plätze angewiesen sind. Sei es, so nah wie möglich irgendwo zu parken, weil er es sonst nicht schafft, mit wenigen Schritten irgendwo hinzukomme­n, oder weil wir auch auf die breiteren Parkplätze angewiesen sind, dass der Lifter vom Auto bedient werden kann, dass man sein Hilfsmitte­l aus dem Auto heben kann. Und ansonsten vielleicht so Aktionen unterstütz­en, wie wenn am 5. Mai (Europäisch­er Protesttag zur Gleichstel­lung von Menschen mit Behinderun­g) Menschen mit Behinderun­gen auf die Straße gehen. Von dem, wofür wir demonstrie­ren, kann im Laufe seines Lebens jeder profitiere­n.

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FOTO: PETER REICHERT Dunja Fuhrmann ist Gesamtbehi­ndertenbea­uftragte der Landeshaup­tstadt Saarbrücke­n. Hier ist sie mit ihrem Handbike unterwegs an der Saar im vergangene­n Sommer. Neben dem Handbikefa­hren zählen Klettern, Schwimmen und das Training im Fitnessstu­dio zu...
 ?? FOTO: MICHAEL KNIPPING ?? Keine Höhenangst – Dunja Fuhrmann beim Paraglidin­g mit Michael Knipping im Urlaub in Oberstdorf.
FOTO: MICHAEL KNIPPING Keine Höhenangst – Dunja Fuhrmann beim Paraglidin­g mit Michael Knipping im Urlaub in Oberstdorf.
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FOTO: PETER REICHERT Die Rollstuhlf­ahrerin kritisiert das viele Kopfsteinp­flaster in Saarbrücke­n, wie hier im Stadtteil St. Arnual.

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