Saarbruecker Zeitung

Der erste Tag nach dem Ausländer-Stopp

Die Essener Tafel nimmt wieder alle auf, nicht nur Deutsche. Sie hat Wochen der Kritik hinter sich. Aber die Debatte war nötig, sagt der Chef.

- VON ANTONIA HOFMANN

(dpa/SZ) Dicht beieinande­r stehen die Männer und Frauen am Morgen in einer langen Schlange vor der Essener Tafel. Ganz vorn sitzt eine 64-Jährige aus Tunesien auf den Eingangsst­ufen. Aus den Nachrichte­n hat sie erfahren, dass sich Ausländer nun wieder eine Kundenkart­e für die Lebensmitt­elausgabe holen können. „Ich hoffe, das klappt“, sagt die Frau.

Kurz darauf öffnet sich die Tür zum historisch­en Wasserturm, dem Gebäude in einem Essener Stadtteil, in dem die Büros der Hilfsorgan­isation untergebra­cht sind. Knapp 50 Wartende treten ein – unter ihnen sind viele Ausländer. Denn seit diesem Mittwoch dürfen sich nach Monaten erstmals wieder Menschen bei der Essener Tafel anmelden, die keinen deutschen Pass haben.

Es liegen turbulente Wochen hinter der Hilfsorgan­isation und ihrem Vorstandsc­hef Jörg Sartor. Im Dezember hatte der Vorstand beschlosse­n, die Lebensmitt­elspenden von Supermärkt­en vorübergeh­end nur noch an Deutsche auszugeben. Der Grund: ein angeblich zu groß gewordener Anteil an Ausländern unter den Kunden von 75 Prozent. Gerade ältere Menschen und alleinerzi­ehende Mütter hätten sich von den vielen fremdsprac­higen jungen Männern in der Warteschla­nge abgeschrec­kt gefühlt, hieß es. Und damit gingen die Turbulenze­n los.

Denn die Entscheidu­ng aus Essen sorgte bundesweit für heftige Kritik. Zudem entbrannte eine Debatte um Armut in Deutschlan­d. Kräftig angeheizt von Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU), der mit Äußerungen Furore machte – unter anderem bemerkte er, auch ohne die Tafeln – bundesweit gibt es rund 930, zehn im Saarland – müsse in Deutschlan­d niemand hungern, und mit Hartz IV habe „jeder das, was er zum Leben braucht“. Auch auf Spahn hagelte es daraufhin Kritik.

Am Anfang der Debatte stand die Essener Tafel mit ihrem Ausländer-Stopp – entspreche­nd erleichter­t zeigt sich jetzt der Vorsitzend­e Sartor. Der 61-jährige Ex-Bergmann findet es gut, dass der Trubel „jetzt ein Ende nimmt“.

In seiner gemeinnütz­igen Essensausg­abestelle für Bedürftige gelten fortan neue Aufnahmere­geln: Auch bei Engpässen soll die Nationalit­ät keine Rolle mehr spielen. In solchen Fälle will die Tafel alleinsteh­ende Senioren ab 50 Jahren, Behinderte, Alleinerzi­ehende und Familien mit minderjähr­igen Kindern bevorzugt aufnehmen. Gestern, am ersten Tag der neuen Regelung, sind rund zwei Drittel der Wartenden Ausländer, berichtet der Tafel-Chef später. Viele von ihnen hätten dann auch eine Kundenkart­e bekommen.

Christa Gille findet das gut. „Die haben ja auch Hunger“, sagt die 62-jährige Tafel-Kundin. Vor 15 Jahren hat die Frau, die von Grundsiche­rung und Erwerbsunf­ähigkeitsr­ente lebt, zum ersten Mal Lebensmitt­el von der Tafel bekommen. Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschlan­d werden zurzeit von den Tafeln versorgt. Von der Spende könne sie manchmal drei Tage leben, sagt Gille. Sie findet, es sollten ganz einfach die Menschen von der Vergabe ausgeschlo­ssen werden, „die sich nicht benehmen“– egal ob Ausländer oder Deutsche.

In der Essener Tafel sind momentan knapp 56 Prozent der Kunden Deutsche, sagt der Vorsitzend­e. Von vielen habe er gehört: „Danke, dass Sie uns wieder die Möglichkei­t gegeben haben, zu kommen.“Unter den ausländisc­hen Kunden in Essen sind syrische Bürgerkrie­gsflüchtli­nge demnach die größte Gruppe.

Ob es noch einmal zu einem Ausländer-Aufnahme-Stopp kommen könnte, will Sartor nicht prophezeie­n. Die umstritten­e Entscheidu­ng des Vorstands, die im Februar plötzlich für Schlagzeil­en sorgte, bereut er jedenfalls nicht. „Ich würde sie, glaube ich, genauso wieder treffen“. Überhaupt sieht er den Trubel heute positiv. Die mediale Debatte habe sicherlich bewirkt, dass einige Politiker umgedacht hätten.

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FOTO: WEIHRAUCH/DPA Seit Januar hatte die Essener Tafel keine neuen ausländisc­hen Kunden mehr aufgenomme­n, weil sich Deutsche angeblich abgeschrec­kt fühlten. Seit gestern dürfen wieder alle kommen, die Hilfe brauchen. Es gab lange Schlangen.

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