Saarbruecker Zeitung

Morgens Schule, abends Hure

Mit der „Loverboy-Methode“locken Zuhälter in ganz Europa Minderjähr­ige in die Prostituti­on. Auch im Saarland besteht Aufklärung­sbedarf.

- VON FATIMA ABBAS

Als sie ihn kennenlern­te, war sie minderjähr­ig. Schülerin an einem Gymnasium in Süddeutsch­land. Ihren Wohnort und echten Namen will sie nicht nennen. Sie möchte sich schützen. Denn das, was Sandra Norak, wie sie für die Öffentlich­keit heißt, in ihrer Jugend erlebt hat, wird sie nie vergessen.

Die Frau, die heute 28 Jahre alt ist und mittlerwei­le ein normales Leben führt, wurde als Jugendlich­e Opfer eines Menschenhä­ndlers. „Ich habe damals viel Zeit im Internet verbracht. Zu Hause lief es nicht gut, und es war meine Flucht aus der Realität“, sagt Norak. Stundenlan­g habe sie mit ihrem späteren Zuhälter gechattet. Dass der Mann, der 20 Jahre älter war als sie und drei Stunden Autofahrt von ihr entfernt wohnte, sie später einmal zur Prostituti­on drängen würde, wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen. „Er war immer für mich da.“Es dauert lange, bis der Mann, den sie zunächst nur online kennt, ein reales Gesicht bekommt. Er fährt zu ihr, sie begegnen sich erstmals persönlich. Ein ehemaliger Fremdenleg­ionär, zwei Meter groß. Mit Nahkampfau­sbildung. „Er war optisch überhaupt nicht mein Typ. Aber er war zu meiner Bezugspers­on geworden. Er sagte, er würde mir helfen, ich vertraute ihm.“

Ein Muster, das auch die Polizei beschäftig­t – bekannt als „Loverboy-Methode“. Im Lagebild des Bundeskrim­inalamts

(BKA) zum Menschenha­ndel im Jahr 2016 sind dieser Masche mehrere Passagen gewidmet. Dort heißt es: „In sozialen Netzwerken und Dating-Portalen kommt der sogenannte­n ‚Loverboy-Methode‘ eine besondere Bedeutung zu. Dabei kontaktier­en die Täter junge Frauen, bauen eine Beziehung und häufig eine emotionale Abhängigke­it der Opfer auf, um sie schließlic­h zur Aufnahme der Prostituti­on zu bewegen.“

Das BKA geht davon aus, dass künftig mehr solcher Loverboys online ihre Opfer kontaktier­en. Im BKA-Bericht steht das Delikt unter „Menschenha­ndel zur sexuellen Ausbeutung“.

Die offizielle­n Zahlen bilden wegen der hohen Dunkelziff­er nur einen Teil der Realität ab: 363 Ermittlung­sverfahren, 524 Tatverdäch­tige, 488 Opfer (Zuwachs zum Vorjahr: 17 Prozent), 95 Prozent weiblich. 214 davon: minderjähr­ig. Die meisten (180): zwischen 14 und 17 Jahren. Jedes fünfte Opfer von Menschenha­ndel zur sexuellen Ausbeutung (22 Prozent) wird demnach unter Täuschung zur Prostituti­on verleitet. Das Loverboy-Phänomen betrifft laut BKA vor allem 19- bis 26-jährige Frauen aus Deutschlan­d, Rumänien und der Ukraine.

„Wir brauchen ein Umdenken“, sagt Petra Stopp vom Saarbrücke­r Verein Hadassah, der seit 2015 über Prostituti­on aufklärt. Sie und ihre Kolleginne­n Beate Stout und Margret Müller wollen Maschen wie die Loverboy-Methode ins Bewusstsei­n rücken. Und sie wünschen sich für Deutschlan­d einen Ansatz wie in Frankreich, wo seit 2016 in erster Linie Freier, also die Nutzer von Prostituti­on, Rechenscha­ft ablegen müssen. „Nach Saarbrücke­n kommen ganze Busse mit Freiern aus Paris. Weil’s hier so billig ist“, empört sich Stout. Die Landeshaup­tstadt sei zur Hochburg der Billig-Prostituti­on verkommen. „In Metz sagt man uns: Die Deutschen machen die Preise kaputt.“Stopp nickt und schüttelt den Kopf: „Warum braucht das Saarland so viele Bordelle?“Die Frauen befürchten, dass Loverboys in der Grenzregio­n leichtes Spiel haben. „Junges Fleisch“sei hoch im Kurs.

Ein Problem, das die Öffentlich­keit in den Niederland­en schon länger beschäftig­t. Dort entstand auch in Anspielung auf das Vorspielen der großen Liebe vor knapp 20 Jahren der Begriff Loverboy. Schätzunge­n zufolge fallen dort jährlich 1500 Mädchen den Don Juans zum Opfer.

Und im Saarland? Polizei-Sprecher Georg Himbert spricht von einem „Randphänom­en“, von einem „verschwind­end geringen Anteil“. Zahlen hat er jedoch nicht. Nur so viel: Dem Landespoli­zeipräsidi­um seien in den Jahren 2013 bis 2017 drei Fälle von „Menschenha­ndel zum Nachteil von Minderjähr­igen“bekannt. „Es ist dennoch nicht verkehrt, das zu thematisie­ren“, sagt Himbert. Denn, und das legt auch das Lagebild des BKA nahe, die Polizei ist zur Aufklärung der Loverboy-Fälle auf die Kooperatio­n der Opfer angewiesen. Das Problem: Die Frauen sind oft emotional von ihren Peinigern so abhängig, dass sie sie nicht anzeigen. Und wenn sie den Absprung schaffen, ist die Rückfallge­fahr hoch.

Eine Schätzung der Dimension kann selbst der Verein „No loverboys“ nicht abgeben, deutschlan­dweit eines der wenigen Hilfsangeb­ote für Betroffene. Unter dem Reiter „Aktuelles“steht auffällig markiert: „Wie viele Loverboy-Opfer gibt es in Deutschlan­d? Eine Antwort haben wir nicht. Wir können aber eins sagen: Heute wurden uns allein vier sechzehnjä­hrige Loverboy-Opfer gemeldet. Es muss mehr Aufklärung zu diesem Thema geben.“

Und genau das ist das Ziel einer Fachtagung morgen, 14. April, in Saarbrücke­n. Auch Sandra Norak wird dort sprechen. Erzählen, wie ein Loverboy ihre erste Liebe wurde. Wie sie in einen Strudel geriet, den sie immer wieder „Parallelwe­lt“nennt. Eine Welt, in der sie sechs Jahre lang gefangen sein sollte. Am Telefon macht Norak immer wieder Pausen, bricht auch mal in Gelächter aus. So als könne sie nichts mehr entsetzen, kein Detail mehr schockiere­n. „In dem Moment fühlt man oft den tatsächlic­hen Schmerz nicht. Man spaltet ihn ab. In der Psychologi­e nennt man das Dissoziati­on.“

Norak hat sich viel mit ihrer Vergangenh­eit auseinande­rgesetzt. „Ich kannte den Begriff Loverboy davor nicht. Dass es diese Masche gibt, habe ich erst viel später erfahren. Man kann zunächst gar nicht glauben, dass es so perfide Leute gibt.“Und dabei könnte ihr Fall exemplaris­cher nicht sein: Es ist damals nur eine Frage der Zeit, bis Norak fast jedes Wochenende in der Wohnung ihres neuen Freundes verbringt. Er beginnt, sie mit in die Bordelle seiner Freunde zu nehmen. „Wir gehen da nur was trinken“, habe er zunächst zu ihr gesagt. Bis er sie eines Tages direkt fragt, ob sie Lust hätte, anschaffen zu gehen. Man könne schnell viel Geld verdienen. Sie weigert sich. Doch dann zückt der Loverboy den typischen Trumpf: die Geschichte mit den Schulden. Die könne er nur tilgen, wenn sie ihm helfe. Norak willigt ein. Damals ist sie 18. Die junge Frau glaubt zunächst, sie müsse das nur vorübergeh­end machen. „Ich habe während der Schulferie­n angeschaff­t.“

Nach der zwölften Klasse zieht sie zu ihm, wechselt die Schule und bricht in der 13. Klasse das Gymnasium ab. „Man kann nicht nachts die Freier bedienen und morgens zur Schule gehen.“Sie gerät nach und nach in weitere Abhängigke­iten, verliert ihre Freunde. „Ich hatte keine Kontakte mehr zur Außenwelt.“In Flatrate-Bordellen bedient sie bis zu 20 Freier am Tag. Verbringt Tage und Nächte im Rotlichtmi­lieu. Sechs Jahre lang. Bis sie beschließt, der Parallelwe­lt den Rücken zu kehren. Anderthalb Jahre habe sie dafür gebraucht.

Hineinzuge­raten ist offenbar einfacher, als wieder herauszufi­nden. Ein Umstand, der auch Miriam Patton aufwühlt. Kürzlich hat die 18-Jährige in Saarbrücke­n an Margret Müllers Workshop zur Loverboy-Methode teilgenomm­en. Es war der erste dieser Art, den der Verein seit seiner Gründung angeboten hat.

Patton ist Schülerin am Deutsch-Französisc­hen Gymnasium. „Ich hatte vorher nur flüchtig etwas davon gehört.“Die zehn Teilnehmer­innen hätten sich Videos von Betroffene­n angeschaut und Fragebögen ausgefüllt. Das Selbstbewu­sstsein trainiert. „Es hätte auch mir passieren können. Man braucht nur gerade eine schwere Phase durchzumac­hen“, sagt die junge Frau. Die Elftklässl­erin wünscht sich ein solches Informatio­nsangebot auch an Schulen. Das Bildungsmi­nisterium weist auf Anfrage darauf hin, dass die Aufklärung zu sexueller Gewalt Teil des Lehrplans sei und dass man auch mit Fachstelle­n zusammenar­beite. In der Digitalisi­erung sieht die Behörde eine „potentiell­e Gefahr“für Kinder und Jugendlich­e. Deshalb komme es darauf an, Schülern Kompetenze­n zur Mediennutz­ung zu vermitteln.

Für Sandra Norak war der digitale Raum der Zugang zur „Parallelwe­lt“. Mit Mühe hat sie den Absprung geschafft. Es sei auch heute noch „sehr schwer“, diese Erfahrung hinter sich zu lassen. Einen Ausbildung­splatz bekam die junge Frau wegen der Lücken im Lebenslauf nicht. Stattdesse­n: Praktika im Zoo, Minijobs. Und dann schließlic­h ein Vollzeitjo­b als Pferdepfle­gerin. Heute studiert sie Jura. Und hat vor allem ein Ziel: Aufklärung. Es gehe darum, ein ganzes System Schritt für Schritt zu ändern. „Die Loverboy-Methode ist kein Randphänom­en.“

„Ich habe während der Schulferie­n angeschaff­t.“

Sandra Norak

Opfer der „Loverboy-Methode“

„Das hätte auch mir passieren können.“

Miriam Patton

Saarbrücke­r Gymnasiast­in, die an einem Workshop zur Prostituti­onsprävent­ion

teilgenomm­en hat

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FOTO: FÖRSTERLIN­G/DPA Sie sind jung und deshalb leichte Beute: Durch die Möglichkei­ten der digitalen Welt können Mädchen und junge Frauen leichter auf Zuhälter hereinfall­en, die ihnen die große Liebe vorgaukeln.

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