Saarbruecker Zeitung

Juden rufen zur Solidaritä­t auf

- FOTO: BOILLOT/IMAGO

„Berlin trägt Kippa“hat die Berliner jüdische Gemeinde für den kommenden Mittwoch zu einer Solidaritä­tsaktion aufgerufen. Alle Teilnehmer sollen dabei eine Kippa aufsetzen, so wie hier Juden in Berlin bei einer Feier zum 70-jährigen Bestehen Israels. Hintergrun­d des Aufrufs ist der gewalttäti­ge Übergriff auf zwei Kippa tragende Männer am Dienstag in Berlin. Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, sprach angesichts des Vorfalls von einer neuen Qualität des Antisemiti­smus.

Alles scheint wieder einmal auf verstörend­e Weise zusammenzu­passen: Ein junger Ausländer schlägt in Berlin unter lautstarke­n Beschimpfu­ngen auf einen Israeli mit traditione­ller jüdischer Kopfbedeck­ung ein. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass es sich bei dem Täter um einen syrischen Flüchtling handelt, der seit 2015 in Deutschlan­d lebt. Also dem Jahr, in dem fast eine Million Asylsuchen­de zu uns kamen und dem Staat streckenwe­ise die Kontrolle dabei entglitt. Muslime gleich Terroriste­n gleich auch Judenhasse­r. So mögen viele jetzt denken. Doch solche Kurzschlüs­se sind Unsinn. Die Judenfeind­lichkeit ist nicht erst mit der großen Flüchtling­swelle in die Bundesrepu­blik gekommen. Sie war auch vorher schon vorhanden. Höchste Zeit, sich darum politisch und gesellscha­ftlich stärker zu kümmern.

Im Durchschni­tt kommt es in Deutschlan­d zu vier antisemiti­schen Straften pro Tag. Statistike­n belegen darüber hinaus, dass etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerun­g antijüdisc­he Vorurteile pflegen. Diese Zahl ist seit Jahren erschrecke­nd konstant. Makabere Judenwitze auf Schulhöfen gehören genauso zum Alltag wie die Tatsache, dass jüdische Einrichtun­gen hierzuland­e unter besonderem Polizeisch­utz stehen müssen. So zu besichtige­n übrigens auch schon vor 2015 im mittlerwei­le gutbürgerl­ichen Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, dem Schauplatz dieses jüngsten schrecklic­hen Übergriffs. Gleichwohl würde niemand auf die Idee kommen, alle Deutschen als Antisemite­n abzustempe­ln. Genauso verbieten sich solche pauschalen Anschuldig­ungen gegen Muslime. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass viele Flüchtling­e, insbesonde­re Palästinen­ser, ganz persönlich­e Erfahrunge­n mit dem Staat Israel gemacht haben, die Wasser auf die Mühlen des Judenhasse­s sind. Das Problem ist also deutlich komplexer, als es die Untat eines jungen Syrers vermuten lässt.

Die Kanzlerin hat gerade erst betont, „mit aller Härte und Entschloss­enheit“gegen solche Vorfälle vorzugehen. Der Außenminis­ter zeigte sich beschämt über den antijüdisc­hen Exzess. Nur, was folgt daraus in der Praxis? Was geschieht, wenn die Empörungsw­elle wieder abgeebbt ist? Die Mahnungen eines Antisemiti­smusbeauft­ragten, wie er erstmals von einer Bundesregi­erung berufen wurde, werden da sicher nicht reichen. Um die Ächtung von Antisemiti­smus und Intoleranz mit Leben zu erfüllen, ist deutlich mehr Aufklärung­sarbeit an Schulen notwendig. Warum dabei nicht auch den Besuch einer KZ-Gedenkstät­te zur Pflicht machen und damit zumindest etwas Nachdenkli­chkeit auslösen? Für Zuwanderer wiederum muss das Thema in den Integratio­nskursen einen Schwerpunk­t bilden. Und ja, vielleicht braucht es auch noch weiterer Symbolik. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller denkt darüber nach, einen neuen gesetzlich­en Feiertag für die Hauptstadt einzuführe­n. Dabei brachte er auch den 27. Januar ins Gespräch, den Jahrestag der Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz. Ein überlegens­werter Gedanke nicht nur für Müllers Bundesland.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany