Saarbruecker Zeitung

Zwischen Erneuerung und den Geistern der Vergangenh­eit

Diesen Sonntag dürfte Andrea Nahles zur ersten Parteichef­in der SPD gewählt werden. Einfach wird sie es aber nicht haben auf diesem Posten.

- VON GEORG ISMAR UND CHRISTIANE JACKE

(dpa) Andrea Nahles wollte Simone Lange am liebsten ignorieren, nun muss sie sich in einem Rededuell mit ihr messen. Bei der SPD läuft seit einiger Zeit nichts mehr, wie es sich die Regie im Willy-Brandt-Haus wünscht. So erklärte Flensburgs Oberbürger­meisterin Lange eine Kandidatur gegen Nahles. Und mit deren Absage an Hartz IV, dem Sticheln gegen Nahles, die den Kontakt zur Basis verloren habe, punktete sie. Und doch könnte die Gegenkandi­datur Nahles helfen.

Denn wenn Nahles, wie erwartet, am Sonntag beim Sonderpart­eitag in Wiesbaden bei unter 80 Prozent Zustimmung landen wird, kann die SPD-Führung das als ehrliches Ergebnis verkaufen – und die Gegenkandi­datur als Zeichen der innerparte­ilichen Demokratie. Ein überragend­es Resultat hätte Nahles vermutlich ohnehin nicht bekommen – nicht bei dem Stand, den sie in der Partei hat, und nicht nach den Verwerfung­en der vergangene­n Monate. Mit Langes Kandidatur hat sie zumindest eine offizielle Entschuldi­gung, warum ihr Stimmen fehlen.

Nahles echte Bewährungs­probe wird erst noch kommen. Die Partei muss sich nach dem Debakel bei der Bundestags­wahl komplett neu erfinden. Und es ist Nahles‘ Aufgabe, die versproche­ne Rundumerne­uerung zu steuern, neue Ideen und Strukturen zu liefern und dafür zu sorgen, dass die SPD nicht nach ein paar Monaten in der Koalition wieder in den alten Trott verfällt. Lange stichelt ausgiebig, Nahles gehöre seit Jahren zum Partei-Establishm­ent und habe viele Chancen der Erneuerung erfolglos vertan.

Immerhin bekommt Nahles inzwischen Unterstütz­ung von Juso-Chef Kevin Kühnert, der vor der Entscheidu­ng über eine weitere Groko noch ihr erbitterte­r Gegner war. Er will Nahles in Wiesbaden seine Stimme geben. Nicht aus Euphorie, betont Kühnert. Aber von Nahles seien nun mal eher Antworten auf die drängenden Erneuerung­sfragen zu erwarten als von Lange.

Was die Frau aus der Eifel sagt, gefällt mitunter auch anderen in der Partei nicht. Es ist eine gewisse Ironie, dass nach dem gescheiter­ten 100-Prozent-Parteichef Martin Schulz nun zwei jener SPD-Politiker die Partei steuern sollen, die intern nicht zu den Lieblingen gehören. Kommissari­sch derzeit Olaf Scholz – und ab Sonntag wohl eben Nahles. Er als Vizekanzle­r, sie als Parteichef­in bilden das neue Führungsdu­o. Mit mauen Ergebnisse­n bei Wahlen kennen sich beide aus. Aber von Heilserwar­tungen und Höhenflüge­n hat die SPD ohnehin erst mal genug.

Nahles ist immer noch gut verdrahtet im linken Lager. Das kann helfen, wenn Konflikte in der Partei gelöst und nicht mehr mit Formelkomp­romissen zugekleist­ert werden sollen. Der große Spagat: Die Mitglieder­schaft ist das eine, die Wählerscha­ft das andere. Scholz und Nahles wissen um die Skepsis vieler Bürger, die etwa nicht mehr Geld für Europa geben wollen. Anstatt dem gerade von den Jusos geforderte­n Linkskurs einzuschla­gen, geht es bei ihnen eher Richtung Mitte. Dort werden Wahlen gewonnen.

Das Nahles-Netzwerk rekrutiert sich zum großen Teil aus Bekanntsch­aften seit gemeinsame­n Zeiten bei den Jusos. Der große Vorteil für den Regierungs­alltag in der ungeliebte­n Groko: Es ist ein Nahles/Scholz-Netzwerk, charakteri­siert durch Verschwieg­enheit statt Durchstech­ereien. Eine profession­elle Maschine der Macht.

Aber: Ein gut funktionie­rendes Netzwerk ist das eine, die gärende Partei zu befrieden und für Wähler attraktive­r zu machen, ist das andere. Dies ist die wahre Aufgabe. Die Verwerfung­en der letzten Monate haben Geister heraufbesc­hworen, die die Lage für Nahles und Scholz fragil machen. Das zeigt sich schon an Lange, die die Sehnsucht nach etwas Neuem bedient. Da ist Schulz, der darauf pochen wird, dass seine Pläne für „Mehr Europa“nicht geschredde­rt werden. Und da ist vor allem der als Außenminis­ter abserviert­e Sigmar Gabriel. Der schreibt munter Gastbeiträ­ge und macht dem Nachfolger im Außenamt, Heiko Maas, mit der eigenen medialen Präsenz das Leben schwer. Ruhe wird so schnell in der SPD nicht einkehren – auch nicht mit der ersten Frau an der Spitze.

Mit Langes Kandidatur hat Nahles zumindest

eine offizielle Entschuldi­gung, warum

ihr Stimmen fehlen.

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FOTO: VON JUTRCZENKA/PICTURE ALLIANCE Die designiert­e SPD-Chefin Andrea Nahles muss die eigene Partei befrieden und zugleich Wähler zurückgewi­nnen.

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