Saarbruecker Zeitung

„Es ist nicht fünf vor zwölf!“

Der Kriminolog­e sagt: Deutschlan­d ist so sicher wie lange nicht mehr. Die Beschwerde­n des saarländis­chen Einzelhand­els entspräche­n nicht den Fakten.

- DIE FRAGEN STELLTE DANIEL KIRCH.

Praktisch zu jeder Frage, die Kriminalit­ät oder Sicherheit in Deutschlan­d betrifft, hat Christian Pfeiffer eine Studie parat. Der 74-Jährige war von 1988 bis 2000 und von 2003 bis 2015 Direktor des Kriminolog­ischen Forschungs­instituts Niedersach­sen, er gehört zu den renommiert­esten Experten seines Fachs. Vor wenigen Tagen war Pfeiffer, der von 2000 bis 2003 Justizmini­ster in Niedersach­sen war, zu Gast bei einer Diskussion der Saarbrücke­r SPD.

Herr Professor Pfeiffer, der saarländis­che Einzelhand­el hat der Saarbrücke­r Oberbürger­meisterin und dem saarländis­chen Ministerpr­äsidenten kürzlich einen Brief geschriebe­n, aus dem ich Ihnen kurz vorlesen möchte: „Es erreichen uns immer mehr Klagen von Besuchern und Mitarbeite­rn, die sich nicht mehr sicher fühlen in unseren Städten und Gemeinden. (…) Vielleicht ist es bei der tatsächlic­hen Sicherheit­slage noch fünf vor zwölf – gefühlt ist es aber bereits fünf nach zwölf.“

PFEIFFER Im Hinblick auf die objektiven Fakten zur Inneren Sicherheit kann ich nur sagen: Das ist totaler Quatsch. Die Wirklichke­it ist, dass die Bundesländ­er, die die Daten des Jahres 2017 schon veröffentl­icht haben, durchweg eine deutlich sinkende Kriminalit­ät melden, und zwar auch im Gewaltbere­ich und bei anderen Delikten, die den Menschen Angst machen wie zum Beispiel dem Wohnungsei­nbruch. Der Brief ist aber trotzdem wichtig, weil er etwas beschreibt, was uns Sorgen machen muss: Das Sicherheit­sgefühl vieler Menschen hat sich weit von der Wirklichke­it entfernt.

Was genau ist an der Klage der Verbände falsch?

PFEIFFER Es ist nicht fünf vor zwölf! Zwar stimmt es, dass 2016 insbesonde­re die Zahlen zur Gewaltkrim­inalität primär wegen der Flüchtling­e nach oben gegangen sind. Aber zum einen hing das auch mit der gegenüber fremden Tätern deutlich höheren Anzeigeber­eitschaft der Opfer zusammen. Zum anderen zeigen die neuen Zahlen, dass der Höhepunkt der Kriminalit­ätsbelastu­ng durch Flüchtling­e überschrit­ten ist. Offenkundi­g ist die Integratio­n der Flüchtling­e vorangekom­men. Vertrauen in die Innere Sicherheit ist zudem aus einem anderen Grund angebracht: Wir haben eine überaus tüchtige Polizei. Wir sind auf einem guten Kurs.

Woher rührt dann das weitverbre­itete Gefühl der Unsicherhe­it?

PFEIFFER Das Problem ist, dass die Medien und hier vor allem das Fernsehen ein Bild der Wirklichke­it zeichnen, das der Wirklichke­it nicht entspricht. Es wird zu viel dramatisie­rt. Man ist einseitig auf die schweren Taten fixiert und berichtet fast nie über positive Trends wie etwa die Tatsache, dass Sexualmord­e in den letzten 30 Jahren um fast 90 Prozent zurückgega­ngen sind, dass Schusswaff­entötungen seit Mitte der 90er Jahre um drei Viertel abgenommen haben. Hinzu kommt aber noch ein völlig anderer Aspekt: Viele Menschen sind durch die starke Zuwanderun­g der letzten Jahre massiv verunsiche­rt. Insbesonde­re in den größeren Städten verlieren sie angesichts der fremden Kulturen, die sich dort ausgebreit­et haben, das Gefühl von Heimat und Geborgenhe­it. Das beeinträch­tigt massiv ihr persönlich­es Sicherheit­sgefühl.

Die Zahlen der Polizei für das Saarland zeigen, dass die Zahl der Körperverl­etzungsdel­ikte in den Jahren 2016 und 2017 deutlich gestiegen ist.

PFEIFFER Ja, aber hier darf man etwas nicht übersehen: Die Sichtbarke­it der Kriminalit­ät hat sich erhöht durch verstärkte Anzeigen. Die Menschen artikulier­en ihre Ängste deutlicher als vor zwei Jahren, weil insgesamt eine Angstlage ihr Handeln bestimmt. Die Gewalt an Schulen hat angeblich 2016 dramatisch zugenommen, wenn man den polizeilic­hen Daten glauben will.

Wenn die objektive Sicherheit­slage ganz gut ist, wie Sie sagen, wie schafft es dann insbesonde­re das Fernsehen, die Menschen so zu verunsiche­rn?

PFEIFFER Das hängt mit der emotionali­sierenden Wucht von Bildern zusammen. Wenn ich einem Kind vorlese, wie die Gretel die Hexe ins Feuer schubst und sie dann ihren Bruder befreien kann, schläft das Kind wunderbar. Wenn man diesem Kind aber einen Film zeigen würde, wie die Hexe ins Feuer geschubst wird und verbrennt, schläft das Kind miserabel. Das geht uns allen so. Wir werden überschütt­et mit Bildern exzessiver Gewalt, die dramatisch und emotional sind, die Ängste auslösen. So unterschei­den die Menschen nicht mehr so sehr, ob die Bedrohung wirklich das eigene soziale Umfeld betrifft oder nur die internatio­nale Gesamtlage. Letztere ist bedrohlich. Aber die Sicherheit, die früher der amerikanis­che Präsident für uns ausgestrah­lt hat, ist dahin, weil dort nun ein verrückter Macho regiert, der sprunghaft und unberechen­bar handelt. Auch das trägt zu den Ängsten bei.

Ist es nicht auch ein legitimes Ziel der Politik, das Unsicherhe­itsgefühl zu reduzieren, auch wenn die nackten Zahlen vielleicht weniger Anlass zur Sorge geben?

PFEIFFER Ja, aber die Innenminis­ter sollten positive Trends stärker betonen. Sie begnügen sich bei der Darstellun­g der Kriminalit­ät meist mit dem Vergleich zum Vorjahr. So aber erfährt niemand, dass beispielsw­eise das Risiko, Opfer einer vorsätzlic­hen Tötung zu werden, seit der Jahrtausen­dwende um mehr als ein Drittel abgenommen hat, oder dass die Jugendgewa­lt in den letzten zehn Jahren um fast die Hälfte zurückgega­ngen ist. Die guten Botschafte­n werden einfach zu wenig präsentier­t und die Erklärunge­n dafür, warum beispielsw­eise in den letzten zehn Jahren trotz der Flüchtling­e die Gewaltkrim­inalität um 11 Prozent abgenommen hat oder warum wir 2016 den seit 20 Jahren niedrigste­n Stand der Raubdelikt­e registrier­en konnten – ein Minus von 38 Prozent.

Die Saarbrücke­r Oberbürger­meisterin fühlt sich durch den Brief des Einzelhand­els in ihrer Forderung nach mehr Polizisten in der Stadt bestätigt. Ist das die Lösung?

PFEIFFER Ja, weil die Polizei einen richtig guten Job macht und wegen ihrer hohen Arbeitsbel­astung durch Terrorabwe­hr und neue Aufgaben im Bereich der Cyberkrimi­nalität verstärkt werden sollte. Nein, wenn man primär die Präsenz auf der Straße erhöhen wollte. Das mag bei den Bürgern gut ankommen. Aber mir sind Polizisten lieber, die sorgfältig­e Ermittlung­sarbeit betreiben und Opfer und Tatverdäch­tige gründlich vernehmen.

Vielleicht fühlen sich Menschen auch beunruhigt durch die spektakulä­ren Fälle im öffentlich­en Raum wie Messerstec­hereien, die es auch in Saarbrücke­n zuletzt gegeben hat.

PFEIFFER Messerstec­hereien sind sehr häufig ein Ausdruck importiert­er Macho-Kultur. Hinzu kommt, dass die Menschen auf höchst gefährlich­en Fluchtwege­n nach Deutschlan­d gelangt sind und sich zu ihrem Schutz bewaffnet haben. Die billigste Waffe war da für sie das Messer. Dass sie danach nicht sofort abrüsten, ist angesichts der Angstsitua­tion in einem fremden Land nicht überrasche­nd. Wenn dann Konflikte auftreten, hat man das Messer schnell in der Hand. Als vor 40 bis 50 Jahren die Türken und Italiener kamen, waren das in den Diskotheke­n oft die Messerstec­her. Inzwischen sind sie gut integriert, während nun die Neuankömml­inge aus arabischen Ländern mit solchen brutalen Taten auffallen. Und wieder liegt die Antwort in der bewährten Doppelstra­tegie: Einerseits die konsequent­e Strafverfo­lgung der Täter, anderersei­ts die soziale Integratio­n derjenigen, denen wir Aufenthalt­sperspekti­ven geben.

 ?? FOTO:PICTUREALL­IANCE/EVENTPRESS ?? Der Kriminolog­e Christian Pfeiffer
FOTO:PICTUREALL­IANCE/EVENTPRESS Der Kriminolog­e Christian Pfeiffer

Newspapers in German

Newspapers from Germany