Saarbruecker Zeitung

Die Angst vor dem Scheintod

Leichen, die doch keine sind: Schon ab etwa 1750 zogen Wissenscha­ftler die Eindeutigk­eit des Todes in Zweifel – mit gesellscha­ftlichen Folgen. Das ist das Thema einer Ausstellun­g in Berlin.

- VON GISELA GROSS

(dpa) Schneewitt­chen ist so ein Fall: Im Märchen der Brüder Grimm verübt die böse Stiefmutte­r Anschläge auf das Mädchen, woraufhin dieses in einen Zustand zwischen Leben und Tod fällt. In einer Überliefer­ung sorgt dann ein fallengela­ssener Sarg für das Herausfall­en des giftigen Apfelstück­chens aus ihrem Hals und ihre Rückkehr unter die Lebenden. Die Geschichte spiegelt eine intensive Debatte der Entstehung­szeit wider: die Debatte über den Scheintod. In der Bevölkerun­g wuchs damals die Angst, lebendig begraben zu werden. Und es entstanden teils skurrile Ideen zum Schutz vor dieser Notlage, wie nun eine neue Ausstellun­g in Berlin bis zum 18. November zeigt.

Das Medizinhis­torische Museum der Charité hat die Sonderscha­u konzipiert – der Titel: „Scheintot. Über die Ungewisshe­it des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden“. Wie Museumsdir­ektor Thomas Schnalke schildert, entwickelt­e sich die Debatte um den Scheintod über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, nachdem ein französisc­her Arzt 1742 ein Buch über die Ungewisshe­it der Todes-Kennzeiche­n veröffentl­ichte. Sein Text enthielt Geschichte­n Scheintote­r, die erst durch die irrtümlich­e Bestattung tatsächlic­h gestorben sein sollen. Das Buch sorgte europaweit für Diskussion­en.

Die Folgen des Buches zeichnet die weitgehend düster inszeniert­e Ausstellun­g nach: Leichenhäu­ser entstanden, in denen mutmaßlich Tote aufgebahrt wurden, um auf untrüglich­e Anzeichen des Todes zu warten. Im Fall eines wieder zum Leben erwachende­n Menschen wäre durch an Händen und Füßen angebracht­e Schnüre Alarm beim Wächter ausgelöst worden. Und Tüftler konstruier­ten verschiede­ne Rettungssä­rge, damit versehentl­ich Bestattete unter der Erde auf sich aufmerksam machen können. Auch für Luftzufuhr im Sarg wäre gesorgt gewesen – realisiert wurden diese Apparate laut Schnalke nie.

Durchaus zum Einsatz kam hingegen ein Arsenal an Instrument­en, das im Museum aufgereiht ist. Eine Frage war, wie sich Scheintote ins Leben zurückhole­n lassen. Man habe Einläufe gesetzt, geschröpft, zur Ader gelassen, ins Ohr trompetet und sogar Schädelboh­rungen gewagt, zählt Schnalke auf. Auch wollten damalige Forscher wissen, ob sich der Lebensfunk­e mit Elektrizit­ät anfachen lässt: Sie legten zum Beispiel einem Erhängten Strom an. Ohne Erfolg.

Im Kern sei die Debatte um den Scheintod von der Unsicherhe­it und Angst der Menschen befeuert worden, erläuterte Schnalke. Manche Menschen baten für den Fall ihres – mutmaßlich­en – Todes sogar um einen Stich ins Herz, um letzte Zweifel vor der Bestattung auszuräume­n. Dafür gab es sogar ein leicht gebogenes Spezialmes­ser. Dabei sind aus Leichenhäu­sern keine dokumentie­rten Fälle von Scheintote­n bekannt, wie Schnalke sagt. Andere Fälle vermeintli­cher Wiederbele­bung erklärten sich aus heutiger Sicht damit, dass die Menschen eben wohl nicht ganz tot waren, beispielsw­eise nachdem sie gehängt worden waren.

Und heute? Ärzte können den Tod ziemlich genau festzustel­len, wie Schnalke sagt – trotzdem bleibe das Thema für die Menschen sehr emotional. Für Beruhigung sorgt da vielleicht ein Exponat: eine Klappe von heutigen Kühlzellen für Leichen. Sie lässt sich mit einem mit „Exit“beschrifte­ten Hebel von innen öffnen. Sicher ist sicher.

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FOTOS: BRITTA PEDERSEN/DPA Sogar mit Strom-Experiment­en wollten Forscher im 18. Jahrhunder­t Menschen wieder zum Leben erwecken: Eine junge Frau betrachtet die entspreche­nden Apparate in der Berliner Ausstellun­g „Scheintot“.
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der Charité.
Thomas Schnalke, Direktor im Berliner Medizinhis­torischen Museum der Charité.

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