Saarbruecker Zeitung

„Jude gilt als Schimpfwor­t“

Wie antisemiti­sch ist Deutschlan­d heute? Und was haben Muslime aus dem Nahen Osten damit zu tun? Auch im Saarland ist man besorgt.

- VON ANNE-BEATRICE CLASMANN UND FATIMA ABBAS

Richard Bermann ist alarmiert. „Sie glauben gar nicht, was in Sachen Antisemiti­smus hier los ist. Das ist unglaublic­h“, sagt der Vorsitzend­e der Synagogen-Gemeinde Saar. Seine Worte, aus denen Resignatio­n herausklin­gt, beschreibe­n ein bundesweit­es Phänomen: Rassismus und Antisemiti­smus im Alltag. An den Schulen, auf der Straße, in den Köpfen. Und der Umgang damit? Ein bisschen so wie mit der Einwanderu­ng. Erst tut die Politik so, als gäbe es das gar nicht. Dann reiben sich alle die Augen, weil sie plötzlich feststelle­n, dass es sich um ein Massenphän­omen handelt. Ein Beauftragt­er wird ernannt. In den Talkshows schlagen die Wogen hoch.

Künstler regen sich über die Vergabe des Echo-Musikpreis­es an Kollegah und Farid Bang auf. Sie finden die Textzeilen der beiden Gangsta-Rapper zu Juden und dem Holocaust geschmackl­os und menschenve­rachtend.

Zugleich sorgt der brutale Gürtel-Angriff eines syrischen Flüchtling­s auf einen arabischen Israeli mit jüdischer Kopfbedeck­ung für Entsetzen. Auch bei der Verbrennun­g einer israelisch­en Flagge bei einer Demo in Berlin waren wohl Syrer aktiv, die noch nicht lange in Deutschlan­d waren. Sie stammen aus einem Land, in dem über Israel und das Judentum auch in der Schule vor allem negativ gesprochen wird. Hintergrun­d: die israelisch­e Besetzung und spätere Annexion der syrischen Golanhöhen. Das „Feindbild Israel“dient arabischen Herrschern seit Jahrzehnte­n als probates Mittel, um innenpolit­ischen Dissens zu unterdrück­en.

Der Islamwisse­nschaftler Muhammad Sameer Murtaza erklärt in seinem Buch „Schalom und Salam. Wider den islamisch verbrämten Antisemiti­smus“, das Mitte Mai erscheint, woher judenfeind­liche Einstellun­gen unter muslimisch­en Zuwanderer­n rühren. Murtaza hat pakistanis­che Wurzeln, ist in Deutschlan­d geboren. Er beklagt, Muslime wie er erführen in deutschen Schulen zwar viel über die Ermordung von Millionen von Juden durch die Nationalso­zialisten. Der Nahost-Konflikt werde jedoch im Schulunter­richt „großzügig ausgespart“.

Diese Lücke könne dazu führen, „dass Muslime den Konflikt als eine Auseinande­rsetzung zwischen Islam und Judentum missdeuten“. Murtaza sagt, wer antisemiti­sche Argumente im muslimisch­en Milieu dekonstrui­eren wolle, dürfe nicht nur mit Schuldzuwe­isungen arbeiten: „Auch Vorbilder sind wichtig, zum Beispiel Muslime, die Juden vor dem Holocaust gerettet haben.“

Von den politisch motivierte­n Delikten, die die Polizei im Jahr 2017 erfasst hat, hatten laut Bundesinne­nministeri­um 1495 einen antisemiti­schen Hintergrun­d, 1069 wurden als „islamfeind­liche“Straftaten gemeldet. In 127 Fällen geht die Polizei von einem „christenfe­indlichen“Hintergrun­d aus. Dabei ist wohl nicht immer festzustel­len, ob für die einzelnen Täter die religiöse Zugehörigk­eit oder die Herkunft des Opfers im Vordergrun­d stand. Die Zahl der antisemiti­schen Straftaten blieb in den vergangene­n drei Jahren relativ konstant – auf hohem Niveau. 2015 waren es 1366 Fälle, 1468 Straftaten im Jahr 2016.

Eine Aufschlüss­elung nach dem politische­n Hintergrun­d der mutmaßlich­en Täter existiert für 2017 bisher nur für die 707 Fälle, die in den auf Anfrage der Linksfrakt­ion erhobenen vorläufige­n Quartalsza­hlen der Polizei auftauchen. Aus der Aufstellun­g geht hervor, dass von diesen 707 antisemiti­schen Straftaten im vergangene­n Jahr 651 einen rechten Hintergrun­d hatten. In 16 Fällen steckte eine „ausländisc­he Ideologie“dahinter, in 15 Fällen eine „religiöse Ideologie“. Lediglich zu einer Gewalttat wurde ein linker Tatverdäch­tiger ermittelt. 24 Fälle konnte die Polizei nicht zuordnen.

„Ich habe den Eindruck, dass Rassismus in der Wahrnehmun­g zugenommen hat, beziehungs­weise offener zutage tritt“, sagt die Antidiskri­minierungs­beauftragt­e für die Berliner Schulen, Saraya Gomis. Bei Gomis haben sich im vergangene­n Jahr 200 Opfer von Rassismus gemeldet. In zwölf Fällen ging es dabei um Antisemiti­smus. Die Forschung deute allerdings darauf hin, dass sich die meisten Menschen gar nicht beschwerte­n, sagt sie.

Das dürfte bei betroffene­n Juden im Saarland nicht anders sein. Der Gemeindevo­rsitzende Bermann spricht von „Mobbing“, berichtet von Schülern, die „noch nicht einmal Juden“seien und trotzdem verbal wegen ihrer vermeintli­chen Zugehörigk­eit zu einer Gruppe angegriffe­n würden. „Jude gilt als Schimpfwor­t.“Die 20 Jugendlich­en, die saarlandwe­it noch der Synagogen-Gemeinde angehörten, müssten sich verstecken, um ihrem jüdischen Religionsu­nterricht beiwohnen zu können, sagt Bermann. Niemand von ihnen traue sich, sich als Jude zu erkennen zu geben. „Die Eltern haben Angst um ihre Kinder.“

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FOTO:IMAGO/PHOTOCASE Die Berliner Synagoge in der Oranienbur­ger Straße ist eine der wichtigste­n Anlaufstel­len für Juden in der Hauptstadt. Einige von ihnen haben mittlerwei­le Angst, sich auf der Straße mit der traditione­llen Kippa zu zeigen.

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