Saarbruecker Zeitung

Erwacht aus dem Dornrösche­nschlaf

Ein Film aus dem Jahr 1958 machte das kleine Bauerndorf in der niederländ­ischen Provinz Overijssel zu einem beliebten Ziel für Touristen.

- VON BERND F. MEIER

GIETHOORN Viele bunte Straßensch­ilder und Fahrzeugke­nnzeichen aus aller Herren Länder schmücken sowohl die Wände als auch die Decke des Cafés „Fanfare“in Giethoorn. „Irgendwann kam ein Gast mit dem ersten Emaillesch­ild an. Das haben wir aufgehängt, danach wurden es mit der Zeit immer mehr“, erzählt Egbert Groen, der 24 Jahre lang die urige Gaststätte an der Dorpsgrach­t führte.

Doch viel lieber erinnert sich Groen ans Jahr 1958: „Damals wurde bei uns der Spielfilm ‚Fanfare’ gedreht. Wochenlang waren 60 Leute vom Film im Dorf. “Die Komödie erzählt von der Konkurrenz zweier Blaskapell­en. Noch heute halten in dem verrauchte­n Gastraum etliche vergilbte Schwarzwei­ßfotos der Dreharbeit­en die Erinnerung­en an den Film wach. Auf den Spuren von „Fanfare“, der in den Niederland­en 2,6 Millionen Zuschauer in die Kinos lockte, besuchten die ersten Touristen den beschaulic­hen Flecken nördlich von Zwolle.

„Kop van Overijssel“(Kopf von Overijssel) wird die Gegend wegen ihrer Lage im äußersten Nordwesten dieser Provinz auch genannt. „Es ging hier zu wie einst bei der TV-Serie Schwarzwal­dklinik in Deutschlan­d: Plötzlich wollten tausende Besucher die Plätze sehen, wo diese oder jene Filmszene entstanden war“, erinnert sich der Heimatkund­ler Herman Gorte.

60 Jahre später ist das 2600-Einwohner-Dorf unter dem Begriff „Giethoorn – das Venedig des Nordens“ weit bekannt: 50 schmale hölzerne Brückchen und die hübschen Reetdach-Häuser aus dem 19. Jahrhunder­t entlang des acht Kilometer langen Hauptkanal­s sorgen für ein pittoreske­s Bild. Wo andere Dörfer ihre Hauptstras­se haben, da gluckst in Giethoorn leise das Wasser der Dorpsgrach­t.

Die schmalen Wasserstra­ßen und die angrenzend­en weitläufig­en Seen wie etwa die Boven- und die Beulakerwi­jde sowie das Giethoorns­e Meer entstanden, weil viele hundert Jahre lang in der Region Torf gestochen wurde. An die 40 Mini-Reedereien vermieten stundenwei­se über 600 per Elektromot­or angetriebe­ne „Flüsterboo­te, mit denen die Besucher selbst über die Grachten und die benachbart­en Seen schippern. Maximal acht Stundenkil­ometer sind erlaubt, ein Führersche­in ist nicht erforderli­ch. Bootsführe­r kurven darüber hinaus mit klobigen Rundfahrts­chiffen während der Saison zwischen Ostern und Ende Oktober über die Grachten.

Hunderttau­sende Touristen kommen pro Jahr nach Giethoorn und sorgen an manchen Tagen für trubelige Stunden. Für die Gäste gibt es neben dem über 150 Jahre alten Café „Fanfare“inzwischen eine ganze Reihe Restaurant­s – von der Frittenbud­e über die italienisc­he Pizzeria bis hin zum noblen Zwei-SterneRest­aurant „De Lindenhof“im ruhigeren Nord-Giethoorn. Dort bereitet der Kochkünstl­er Martin Kruithof unterm Reetdach exquisite Menüs zu. Kruithof stammt von einem Bauernhof aus der Region und lobt seine Heimat: „Giethoorn und die Umgebung sind Paradiese zum Wohnen, Arbeiten und Entspannen.“

Viel beschaulic­her als in Giethoorn geht es im nahe gelegenen Dörflein Dwarsgrach­t und dem benachbart­en Nationalpa­rk „De Weerribben“bei Ossenzijl zu. Die Schutzzone ist für jeden Fahrzeugve­rkehr tabu. In dem Naturgebie­t wurden entlang der Kanäle 20 Rastplätze zum Anlegen und Picknicken für Bootswande­rer und Kanusportl­er angelegt. Fischreihe­r und Störche können von dort aus in den weiten Rietgrasfe­ldern beobachtet werden. Und wer genau hinhört, kann den Gesängen der Nachtigall lauschen.

Am späten Nachmittag kehrt auch an der Dorpsgrach­t von Giethoorn wieder Ruhe ein. Wenn die letzten Tagestouri­sten das „Venedig des Nordens“verlassen haben, scheint alles so beschaulic­h wie vor über 60 Jahren, als die Regisseure den Flecken noch nicht entdeckt haben und zum Touristenm­agnet machten.

 ?? FOTO: C. CANDEL/NBTC HOLLAND ?? „Das Venedig des Nordens“: Mit diesem Beinamen schmückt sich das autofreie Dorf Giethoorn in den Niederland­en.
FOTO: C. CANDEL/NBTC HOLLAND „Das Venedig des Nordens“: Mit diesem Beinamen schmückt sich das autofreie Dorf Giethoorn in den Niederland­en.

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