Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­r hadern mit den neuen Frittier-Regeln

Seit seinem elften Lebensjahr hört Gerhard Malik nichts mehr. Das hält ihn aber nicht davon ab, auf Konzerte zu gehen.

- VON NINA DROKUR Produktion dieser Seite: Alexander Stallmann, Matthias Zimmermann, Frank Kohler

Gerhard Malik, ein großer Mann mit grauen Haaren und grauem Bart, freut sich auf seine Lieblingsb­and. Als die Münchner Freiheit loslegt, sucht sich der Bass des ersten Liedes seinen Weg durch die Menge. In der ersten Reihe, direkt neben der großen Box, steht der Mann mit dem runden Gesicht und dem sympathisc­hen Lächeln. Nimmt die Schwingung­en auf, fühlt den Rhythmus. Wippt mit. Als langjährig­er Fan kennt er die Lieder auswendig. Die Worte, die der Sänger formt, hört Malik jedoch nicht. Gerhard Malik ist taub.

Mit elf Jahren erkrankte Malik an einer Hirnhauten­tzündung. Lag zwei Wochen im Koma. Als der Junge erwachte, begann ein neues Leben. Plötzlich war die Welt still. Kein Vogelgezwi­tscher mehr. Kein Radio. Die Stimme der Mutter verstummte.

Davon erzählt er heute, mehr als 50 Jahre später am rustikalen Küchentisc­h seines gemütliche­n Hauses in Saarbrücke­n sehr sachlich. Ab und zu gebärdet er mit den Händen mit. Hinter dem Anwesen liegt ein großer Garten. Viel Arbeit, aber die macht dem Rentner Spaß, hier kann er entspannen.

Dass der 64-Jährige nichts hört, fällt erst mal gar nicht auf. Darum sprechen ihn manchmal Passanten an und fragen nach dem Weg. Vielleicht könnte er helfen. Er gibt sich Mühe, es ihnen von den Lippen abzulesen. Das klappt aber nicht immer sofort. Spätestens, wenn sie ihre Frage zum dritten Mal wiederhole­n müssen, reagieren die meisten genervt und fragen jemand anderen. Das tut weh. „Es wurmt mich. Wenn sie gleich wüssten, dass ich taub bin, würden sie mich gar nicht erst fragen.“Er wünscht sich, dass die Menschen es immer wieder versuchen würden. Irgendwann klappt es, verspricht er. „Und die letzte Möglichkei­t ist aufschreib­en.“

Die Kinder in der Schule, so erzählt Malik, konnten mit seinem plötzliche­n Hörverlust nicht umgehen. „Ich habe alle meine hörenden Kameraden von früher verloren.“Er konnte sie nicht verstehen. Sie wussten nicht, wie sie es ihm verständli­ch machen sollten. Er wurde zum Außenseite­r. Die Eltern schickten ihn auf ein Internat mit anderen gehörlosen Kindern nach Lebach. Die wussten schnell, wie sie den Neuling aufnehmen. Sie brachten ihm die Gebärdensp­rache bei.

Taubheit bringt mehrere Probleme mit sich. Denn Gleichgewi­chtsstörun­gen sind eine Begleiters­cheinung. Malik kann bis heute nicht Rad fahren. Dafür singt er aber leidenscha­ftlich gern. Um seine Stimmbände­r zu trainieren, wozu ihm sein Arzt geraten hat. Weil er spät ertaubt ist, kann er noch sprechen und singen. Das ist nicht bei allen Gehörlosen so. Am liebsten singt er in der Badewanne. Seine schwerhöri­ge Frau Ulrike schaltet dann die Hörgeräte ab, scherzt sie. Und auch am Geburtstag seiner guten Freundin Mechthild hat er ein Ständchen gesungen. „Das selbst gedichtete Lied vorzutrage­n, hat Mut gekostet. Danach war ich richtig stolz auf mich.“

Eine seiner Lieblingss­endungen? The Voice of Germany. Dafür legt er sich den Lautsprech­er auf den Bauch und liest die Untertitel mit. The Voice of Germany sei eine der wenigen Musik-Sendungen im privaten Fernsehen, die hierfür Untertitel anbietet.

Nach anderthalb Jahren in Lebach wechselte der Jugendlich­e zu einem Internat für Schwerhöri­ge in Hamburg. Eine Lehrerin dort übte mit ihm, von den Lippen abzulesen. Das ist schwer. Jedes Mundbild ist anders. Oft saßen sie zusammen vorm Spiegel. Haben sich selbst und den anderen beobachtet. Immer wieder geübt. Er liest gut von den Lippen ab. An Fremde muss er sich erst gewöhnen, denn jedes Gesicht, jeder Mund ist anders.

Das Ehepaar mag es, die beiden erwachsene­n Söhne in München zu besuchen. Die Fahrt mit der Bahn funktionie­rt jedoch nicht immer reibungslo­s. Meist, so erzählt er, werden Änderungen nur über die Lautsprech­er durchgesag­t. Das bekommt das Paar nicht mit. Mehrmals sind sie deshalb schon im falschen Zugabteil gelandet oder standen am falschen Gleis. Gerade für Frau Ulrike mit einem

Gerhard Malik

künstliche­n Hüftgelenk ist dies dann eine Herausford­erung.

Und Schaffner hätten auch nicht immer Verständni­s. Als ein Zug in anderer Wagenreihu­ng in den Bahnhof einfuhr, standen die beiden am Bahnsteig vorm falschen Abteil. Denn: Die Änderung wurde nirgends angezeigt, nur durchgesag­t. Die Reaktion des Zugbegleit­ers, als sich die Maliks darüber beklagten: „Lieber ein bisschen laufen als eine halbe Stunde Verspätung.“Und meinte damit, dass Kunden dies statt des Zeitverlus­tes in Kauf nehmen müssten, der entstehe, wenn Wagen umgekoppel­t werden.

Malik beendete die Schule mit der mittleren Reife. Abitur für einen Gehörlosen? In den 60er/70er-Jahren noch undenkbar. Die meisten haben dann einen handwerkli­chen Beruf erlernt. Maler oder Schreiner. Malik aber leistete Pionierarb­eit. Mit Gehörlosen aus ganz Deutschlan­d besuchte er eine kaufmännis­che Wirtschaft­sschule in Heidelberg. Malik ist einer der ersten Absolvente­n. Danach besuchte er noch eine weitere. Die war allerdings nicht auf Gehörlose spezialisi­ert. Er musste sich durchbeiße­n. Schaffte es. Ist Diplom-Datenverar­beitungska­ufmann.

Nach langer Suche fand er eine Stelle als Programmie­rer im Rechenzent­rum einer Bank. Damals noch ohne Monitor, mit Lochkarten. Er hat die gesamte EDV-Entwicklun­g erlebt. Am Anfang wurde erst mal getestet, was er kann. Unschlagba­r war er im Korrekturl­esen der Quelltexte. Er hatte weniger Ablenkung als seine hörenden Kollegen. Was er nicht konnte, war telefonier­en. Das mussten andere für ihn erledigen. Oder er musste zu ihnen hingehen. Nicht alle hatten Verständni­s dafür. An Türen klopfte er deshalb nur zögerlich.

Über 40 Jahre hat er bis zur Rente vor wenigen Jahren für diese Firma gearbeitet. Probleme gab es nur bei Versammlun­gen. So vielen Menschen auf einmal konnte er nicht folgen. Drei Tage später bekam er Sitzungspr­otokolle. Davor versuchte er, die Infos von anderen zu bekommen. Oft, so erzählt er, haben die abgewunken. „Nichts“oder „Ach, kannste vergessen“hörte er. „Aber ich will doch wissen, was ich vergessen soll. Ich will das ‚Nichts‘ wissen.“

In den letzten Jahren vor seiner Pension hatte die damalige Abteilungs­leiterin eine Lösung parat: einen Schriftdol­metscher. Eine speziell ausgebilde­ter Mitarbeite­r kam zu den Sitzungen, sprach und tippte alles, was auf der Versammlun­g gesagt wurde, in ein Gerät. Schweißtre­ibende Arbeit, berichtet Malik anerkennen­d. Auf einem Bildschirm konnte er so die Sitzung verfolgen. Konnte dann auch selbst mitreden, Fragen stellen, sich einbringen. Konnte endlich auch abwinken und das „Nichts“vergessen.

„Wenn sie gleich wüssten, dass ich taub bin, würden sie mich gar

nicht erst fragen.“

Rentner

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FOTO: RICH SERRA Der gehörlose Gerhard Malik liebt die Arbeit und das Entspannen in seinem Garten in Bischmishe­im.

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