Ganz Erlangen pilgert auf den „Berch“
Jedes Jahr zu Pfingsten steigt in der bayerischen Barockstadt eines der größten Volkfeste Deutschlands: die Bergkirchweih.
ERLANGEN An betagten Häusern schleicht Efeu die Fassade hoch. Behäbig ziehen Menschen durch die schmalen Gassen. Hier und da brütet ein Storch, es grünt zunehmend. Auf dem Weg ins Zentrum der altertümlichen Stadt Erlangen in Bayern stellt sich unaufhaltsam die fränkische Gemütlichkeit ein.
Der barocke Baustil, der die gesamte Innenstadt ziert, geht auf die im 17. Jahrhundert zugewanderten Hugenotten zurück. Ihnen verdanken die Erlanger auch die schachbrettartige Anordnung des Stadtkerns, die das heutige Erscheinungsbild im Wesentlichen bestimmt. Der hohe Grünanteil, der sich vor allem in den vielen Gärten und Parkanlagen zeigt, steht in direktem Kontrast zu den modernen Einrichtungen des Elektronik-Riesen Siemens, dem größten Arbeitgeber der Region.
Als Medizinmetropole hat sich die Universitätsstadt Erlangen einen Namen gemacht. An der medizinischen Fakultät der Uni werden angehende Ärze ausgebildet. Und im Exzellenzzentrum Medical Valley medizintechnische Produkte und Dienstleistungen entwickelt.
Gesund ist mit Sicherheit auch der Schwung aufs Fahrrad, das die meisten Einwohner dem Auto vorziehen. Wie pulsierende Adern durchlaufen die stets frequentierten Rad-Wege die Innenstadt. Am Straßenrand bieten urige Restaurants und Biergärten Gelegenheit, sich von den Anstrengungen der Reise zu erholen.
Die Mittelfranken, nicht zu verwechseln mit den Ober- oder Unterfranken – und schon gar nicht mit den Bayern – sind ein besonderes Völkchen. Oft zu Unrecht als Spießbürger getadelt, steht ihre zurückhaltende Art dem herzlichen Umgang mit Fremden selten im Weg. Am eindrücklichsten demonstrieren sie das zu Pfingsten, wenn die ganze Stadt wieder dem Ruf des Berges folgt.
Es ruft die Bergkirchweih, mit über einer Million Besuchern im Jahr eines der größten deutschen Volksfeste. Mit dem „Berch“, wie das Spektakel liebevoll von den Einheimischen genannt wird, halten Menschenmassen zwölf Tage lang Einzug in die beschauliche Frankenstadt.
Dann herrscht Ausnahmezustand in Erlangen. Zwischen Bierkrügen und Blasinstrumenten finden Besucher auf Bierbänken unter mit Lampions geschmückten Kastanienbäumen Platz. An den Fahrgeschäften der alteingesessenen Schaustellerfamilien klingeln die Kassen. Deftige und süße Leckereien warten an jeder Ecke darauf, verzehrt zu werden. Hier lernen Besucher die fränkische Mentalität in Vollendung kennen.
Wie schon zur Architektur der Stadt leisteten die Hugenotten auch einen entscheidenden Beitrag zur Bergkirchweih. Kurz nach ihrer Ankunft beschlossen die Glaubensflüchtlinge Keller in den nur 60 Meter hohen „Berg“zu bauen, damit das Bier auch im Sommer kühl blieb. Diese Annehmlichkeit, so heißt es heute, sorgte dafür, dass man das traditionelle Vogelschießen, bei dem ein hölzerner Brandenburger Adler beschossen wurde, auf den Burgberg verlegte. 1755 entstand daraus der sogenannte Pfingstjahrmarkt, der als direkter Vorläufer der heutigen Bergkirchweih gilt.
Der Ablauf des Volksfestes ist klar geregelt. Schon morgens, nach dem Weißwurstfrühstück, drängen die meisten in Richtung Berg. Dort verharrt das Feiervolk den ganzen Tag über. Spätestens um 23 Uhr schlurfen die Verbliebenen zurück in Richtung Innenstadt, um das Fest in der dort angesiedelten Kneipenszene ausklingen zu lassen. Zur Bergzeit ist jeder Tag wie der andere. Bis auf den Pfingstdienstag, der wurde zum inoffiziellen Nationalfeiertag erhoben. Dann schließen die Geschäfte in der Stadt extra früher, damit sich die ganze Bevölkerung auf dem Berg einfinden und gemeinsam feiern kann.
Ein paar Tage später ist der Spaß schon wieder vorbei. Das letzte Bierfass wird zu den Klängen von Lale Andersens „Lili Marleen“begraben, und die Erlanger gehen wieder ihren üblichen Geschäften nach. Zwischen den Bierbänken auf dem Burgberg blühen die ersten Hortensien. Der Sommer kann kommen.