Saarbruecker Zeitung

Fußballer bei Erdogan: Ein Stück deutsche Realität

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Das Foto von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit Präsident Erdogan ist zum Fremdschäm­en. Und es wird viele deutsche Fußballfan­s schmerzen, die sich fragen, ob sich die beiden bei der WM wirklich mit dem Adler auf ihrem weißen DFB-Trikot identifizi­eren. Das Bild muss aber auch viele außerhalb des Fußball-Kosmos irritieren, denen der Zusammenha­lt und der demokratis­che Konsens in diesem Land am Herzen liegen. Dabei wirft die Aufnahme der Fußballer aber nur ein Schlaglich­t auf die Realität des Jahres 2018. Dass sich Millionen Türkischst­ämmige der dritten Generation nicht allein zu Deutschlan­d gehörig fühlen, sondern mit einem Bein in der Kultur ihrer Großeltern stehen, ist keine neue Erkenntnis. Dass Erdogan trotz oder wegen seines autokratis­chen Kurses bei Deutsch-Türken populär ist, wissen wir spätestens seit dem Verfassung­sreferendu­m.

Insofern überrascht die hysterisch­e Reaktion auf das Londoner Foto etwas – vor allem die seltsame Koalition der Kritiker. Wann haben sich mal alle Parteien im Bundestag gemeinsam empört: von der Linken, über Grüne bis hin zur AfD? Dass Alice Weidel (AfD) die Spieler aus dem WM-Team schmeißen will, verwundert kaum. Wenn aber Cem Özdemir sagt, Gündogans Präsident sitze in Berlin und nicht in Ankara, ist das aus dem Munde eines Grünen kurios. Schließlic­h sind die Grünen Verfechter der doppelten Staatsbürg­erschaft, wie sie Gündogan hat. Natürlich ist dann neben Steinmeier auch Erdogan sein Präsident. Willkommen in der Realität.

Wenn die Spieler scharf kritisiert werden müssen, dann weil sie einem Politiker Wahlkampfh­ilfe leisteten, der dabei ist, in ihrer zweiten Heimat Demokratie und Rechtsstaa­t abzuschaff­en. Aber muss man von ihnen mehr politische­n Instinkt erwarten als von Altkanzler Gerhard Schröder, der bei Wladimir Putins Amtseinfüh­rung den Kotau machte? Der DFB jedenfalls tat gut daran, moderat zu reagieren. Seine politische Bilanz ist durchwachs­en, man nehme den Umgang mit Argentinie­ns Mörder-Junta bei der WM 1978 oder die Mauschelei­en bei der WM-Bewerbung für 2006.

Jenseits des politische­n Fauxpas der Spieler gilt: Fußball ist ein Spiegel der Gesellscha­ft. Unsere ist durch Einwanderu­ng geprägt. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Italo-Saarländer in Saarbrücke­n hupen, wenn die Squadra Azzura die DFB-Elf besiegt hat. Wir haben Verständni­s, wenn Lukas Podolski (2008 bei der EM) entscheide­nde Tore gegen Polen für uns schießt, aber aus Respekt vor seinem Geburtslan­d nicht jubelt.

Dennoch kann es uns nicht kalt lassen, wenn große Gruppen in Deutschlan­d über Generation­en gespaltene Loyalitäte­n haben. Wenn sie Autokraten wie Erdogan oder (bei den Russlandde­utschen) Putin bewundern, untergräbt das unsere Demokratie. Aber wer das verhindern will, muss diesen Gruppen mit Offenheit begegnen, nicht nur wenn sie für Deutschlan­d Tore schießen. Preisfrage: Wieso soll ein türkischst­ämmiger Fußballer muslimisch­en Glaubens die deutsche Nationalhy­mne singen, wenn ihm ständig gesagt wird, seine Religion gehöre nicht zu Deutschlan­d?

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