Saarbruecker Zeitung

„So groß war die Kluft noch nie“

Seit Jahren bleiben zu viele Ausbildung­sstellen unbesetzt. IHK und HWK wünschen sich mehr Unterstütz­ung durch Bund und Land.

- DIE FRAGEN STELLTE TERESA BAUER

SAABRÜCKEN Zu wenige Jugendlich­e entscheide­n sich für die duale Ausbildung. Hanno Dornseifer, Präsident der Industrie- und Handelskam­mer (IHK), und Bernd Wegner, Präsident der Handwerksk­ammer des Saarlandes (HWK), äußern sich zum Fachkräfte­mangel und die Auswirkung­en der Digitalisi­erung auf den Ausbildung­smarkt.

Herr Dornseifer, Herr Wegner, viele Unternehme­n finden kaum mehr Auszubilde­nde. Woran liegt das?

DORNSEIFER In der Tat wird die Situation immer brisanter: Ende des Ausbildung­sjahres 2017 waren bei der Arbeitsage­ntur 1260 mehr Ausbildung­sstellen als Bewerber gemeldet. So groß war die Kluft noch nie. Gründe dafür sind, dass immer weniger Schüler die Schulen verlassen – und immer mehr von ihnen (Fach-)Abitur haben und ein Studium aufnehmen.

WEGNER: Außerdem wissen viele junge Menschen zu wenig über die Karrierech­ancen, die eine berufliche Ausbildung bietet. Neben der Vielfalt von über 130 Ausbildung­sberufen bietet das Handwerk berufliche Perspektiv­en, wie beispielsw­eise Meister, Techniker oder Betriebswi­rt. Derzeit sind rund 450 Lehrstelle­n im saarländis­chen Handwerk unbesetzt, und in den nächsten fünf Jahren suchen etwa 2000 Betriebe die Unternehme­nsnachfolg­e.

Können Sie dieser Entwicklun­g entgegenwi­rken?

WEGNER Wir gehen bei der Nachwuchsw­erbung neue Wege. Ich nenne beispielha­ft unseren erfolgreic­hen You-Tube-Kanal „Mach Dein Ding!“oder auch die Seite www. lehrstelle­n-radar.de. Wir unterstütz­en auch Studienaus­steiger mit unserem Projekt „Vom Hörsaal ins Handwerk“und bieten saarländis­chen Schulen für die Klassenstu­fen sieben, acht und neun eine vertiefte Berufsorie­ntierung mit Potenziala­nalyse an.

DORNSEIFER Die IHK versucht beispielsw­eise gemeinsam mit spezialisi­erten Coaches – etwa im Rahmen unseres Projektes „Anschluss Direkt“– gezielt Jugendlich­e für eine Ausbildung zu begeistern. Damit werben wir an den Gemeinscha­ftsschulen für die Aufnahme einer dualen Berufsausb­ildung.

Welche Fähigkeite­n müssen Auszubilde­nde heute mitbringen? Welche Zielgruppe möchten Sie für eine Ausbildung gewinnen?

WEGNER Produkte und Dienstleis­tungen unserer Handwerksb­etriebe werden immer anspruchsv­oller. Dafür benötigt das Handwerk bestens qualifizie­rten Nachwuchs. Gleichzeit­ig gibt es eben weniger Jugendlich­e. Also müssen wir neue Zielgruppe­n ansprechen. Zum Beispiel Frauen für klassische Männerberu­fe begeistern. Im Handwerk findet sich für fast jede Begabung ein Karrierewe­g. DORNSEIFER Ordentlich­e Kenntnisse in Mathematik und Deutsch sind nach wie vor wichtig. Hinzu kommen sogenannte „Soft Skills“, wie Zuverlässi­gkeit, Verantwort­ungsbewuss­tsein und Teamfähigk­eit. Mit unseren Beratungsa­ngeboten sprechen wir auch gezielt Jugendlich­e mit Migrations­hintergrun­d und Geflüchtet­e an.

Welche Besonderhe­iten hat der saarländis­che Ausbildung­smarkt?

WEGNER Das Saarland ist von einer gewissen Industriek­ultur geprägt. Das macht es für unser Handwerk nicht einfach, im Wettbewerb mit großen Unternehme­n um junge Menschen zu werben. Sicher prägt auch die Nähe zu Frankreich unsere Region. Wir sehen beim grenzübers­chreitende­n Austausch und bei der Ausbildung aber noch Handlungsb­edarf. Beispielsw­eise ist die Abstimmung der Schulen und der Betriebe über die Landesgren­ze hinweg eine Herausford­erung. Wir unterstütz­en auch vor diesem Hintergrun­d die Frankreich­strategie der Landesregi­erung.

Welche Auswirkung­en hat die Digitalisi­erung auf den Ausbildung­smarkt?

DORNSEIFER Die Digitalisi­erung verändert Arbeitsinh­alte und -abläufe radikal. Viele Tätigkeite­n werden sich stark verändern oder sogar komplett wegfallen. Gänzlich neue Berufsbild­er entstehen. Inhalte und Wissensver­mittlung passen sich den neuen Möglichkei­ten an – sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschu­le.

WEGNER Die Digitalisi­erung bietet Chancen und Risiken. Chancen zum Beispiel durch eine bessere Wissenstei­lung über Cloud-Lösungen. Wir haben als Vorreiter im Saarland ein Projekt aufs Gleis gesetzt, das unsere Ausbildung­swerkstätt­en, die Berufsschu­le und die Ausbildung­sbetriebe über eine Lernplattf­orm, auf die man immer und von überall per Computer, Smartphone oder Tablet Zugriff hat, zu einem gemeinsame­n virtuellen Lernort verbindet. Die Ergebnisse dieses Projekts werden derzeit bundesweit ausgerollt

Der Fachkräfte­mangel wird nicht von der Wirtschaft allein behoben werden können. Welche Unterstütz­ung erhoffen Sie sich vom Land und vom Bund?

DORNSEIFER Ganz wichtig ist eine gute Berufsorie­ntierung in den Schulen – und zwar in allen Schulforme­n, das heißt insbesonde­re auch an den Gymnasien. Und wir brauchen ein Übergangss­ystem von der allgemeinb­ildenden Schule in den berufliche­n Bereich, das noch stärker an Themen der Ausbildung orientiert ist. Vom Bund wünschen wir uns eine höhere Schlagzahl bei der notwendige­n Neuordnung der Ausbildung­sberufe, aber auch eine finanziell­e Beteiligun­g bei der erforderli­chen Ausstattun­g der Bildungsei­nrichtunge­n – gerade vor dem Hintergrun­d der Digitalisi­erung. WEGNER Wer gesellscha­ftspolitis­ch die Gleichwert­igkeit der berufliche­n mit der akademisch­en Bildung beschwört, muss auch die notwendige­n Gelder zur Verfügung stellen. Der Zugang zu berufliche­r Qualifizie­rung muss genauso kostengüns­tig sein wie der Zugang zur akademisch­en Qualifizie­rung. Hier besteht ein klares Ungleichge­wicht zulasten der dualen Ausbildung und den entspreche­nden Qualifizie­rungsmögli­chkeiten im Handwerk. Zum Beispiel muss die Meister- und Technikera­usbildung attraktiv und zukunftsfe­st bleiben. Wir arbeiten hier gut mit der Landesregi­erung zusammen, so dass die Saarländis­che Meisterund Technikers­chule (SMTS) auch nach 2022 eine Zukunft hat.

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T DPA Die Kammern wollen mehr junge Frauen für sogenannte Männerberu­fe begeistern. Das Foto zeigt eine angehende Industrust­riemechani­kerin, die in einer Lehrwerkst­att ein Metallstüc­k feilt.
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FOTOS: IHK/KERKRATH Die beiden Kammerpräs­identen (v.l.): Hanno Dornseifer (IHK) und Bernd Wegner (HWK)
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