Saarbruecker Zeitung

Ihm ist kein Verbrechen fremd

Thorsten Tanto ist Ermittlung­srichter am Amtsgerich­t Saarbrücke­n – und glaubt trotzdem noch an das Gute im Menschen.

- VON NORA ERNST

SAARBRÜCKE­N Ein Fall aus seiner Anfangszei­t als Ermittlung­srichter ist Thorsten Tanto besonders in Erinnerung geblieben: als eine bekannte Rotlichtgr­öße vor ihm zusammenbr­ach und weinte – der Mann hatte gerade erfahren, dass derjenige, den er für einen Freund gehalten und der ihn zu einem Raub angestifte­t hatte, ein V-Mann der Polizei war. „Das lässt einen nicht kalt“, erinnert sich Tanto, der darüber entscheide­n musste, ob der Mann in U-Haft kam oder nicht. Der Fall ging ihm auch deshalb nicht aus dem Kopf, weil er aus juristisch­er Sicht spannend war und zeigte, wie widersprüc­hlich Rechtsprec­hung manchmal sein kann. Während der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte es als Unrecht ansah, einen Verdächtig­en zu einer Straftat anzustifte­n, um ihn zu überführen, urteilte der Bundesgeri­chtshof (BGH) lange anders. Erst 2016 schloss sich der BGH der Auffassung des Europäisch­en Gerichtsho­fs an.

Seit drei Jahren arbeitet Tanto als Ermittlung­srichter am Amtsgerich­t Saarbrücke­n: 1500 Fälle landen im Schnitt jedes Jahr auf seinem Schreibtis­ch. 1500 Entscheidu­ngen, die er treffen muss und die oft schwerwieg­ende Eingriffe in das Leben eines Menschen darstellen. Urteile fällt der 47-Jährige als Ermittlung­srichter nicht, er befasst sich mit den Fällen, bevor überhaupt Anklage erhoben wird. Wenn die Staatsanwa­ltschaft Untersuchu­ngshaft beantragt oder einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss, wenn die Polizei eine Genehmigun­g braucht, um einen Terrorverd­ächtigen abzuhören oder das Handy eines Selbstmord­gefährdete­n zu orten – dann ist Tanto gefragt. In den gravierend­sten Fällen geht es darum, ob ein Verdächtig­er in U-Haft muss oder nicht. Der Ermittlung­srichter hört den mutmaßlich­en Täter an und prüft genau, ob die rechtliche­n Grundlagen vorliegen, um ihn ins Gefängnis zu schicken: Besteht die Gefahr, dass er flieht, erneut kriminell wird oder die Tat verdunkelt? Nicht immer fällt seine Entscheidu­ng im Sinne von Polizei und Staatsanwa­ltschaft aus: „Die wollen natürlich jeden, den sie zu mir bringen, in Haft sehen. Die Ermittlung­srichter sind eine neutrale Instanz, wir gucken genau, ob es gerechtfer­tigt ist.“

Dass selbst ein Richter nie ganz objektiv sein kann, ist Tanto bewusst: „Die eigenen Ansichten schwingen immer mit.“Aber man müsse bestrebt sein, eine gerechte Entscheidu­ng im Sinne des Gesetzes zu treffen. „Schlecht ist es, wenn einem Richter der Fall egal ist.“Auch solche Kollegen sind ihm in seiner Laufbahn schon begegnet. „Ich finde unsere Gesetze ganz überwiegen­d gut und sinnvoll. Das erleichter­t es, hinter der eigenen Entscheidu­ng zu stehen.“Dennoch – auch Richter machen Fehler. Bis heute bereut der 47-Jährige, dass er einen Mann einen Monat lang in U-Haft schickte, der verdächtig­t wurde, ein Kind sexuell missbrauch­t zu haben. Tanto hegte Zweifel: „Die Aussage des Kindes war relativ dürftig, eher oberflächl­ich.“Dennoch genehmigte er die U-Haft. Wie sich herausstel­lte, war der Mann unschuldig. „So etwas hängt einem schon nach.“

Tanto ist ein freundlich­er Mann, gar nicht der Typ „strenger Richter“, er lacht gerne, wägt seine Antworten sorgfältig ab und hört genau zu. Dass er Richter werden wollte, wusste er schon zu Schulzeite­n, schon damals wollte er für Gerechtigk­eit sorgen. „Ich habe es bei Schulhofsc­hlägereien als sehr ungerecht empfunden, wenn es die Schwächere­n traf.“Nach dem Jura-Studium in Bielefeld kam er für sein Referendar­iat ins Saarland, „um dem schlechten Wetter zu entkommen“, scherzt er. Nach dem Staatsexam­en arbeitete er anderthalb Jahre als Anwalt, ein Jahr lang als Staatsanwa­lt, bevor er schließlic­h zum Familienri­chter berufen wurde. Zwölf Jahre lang urteilte er in Streitigke­iten um Sorgerecht, Unterhalt und Scheidunge­n.

Seit 2015 ist er Ermittlung­srichter und sitzt Tag für Tag Kriminelle­n, teilweise Schwerverb­rechern, gegenüber. Ist der Beruf des Richters gefährlich? Tantos Antwort kommt schnell: „Nein.“Die Verdächtig­en seien ja in der Regel gefesselt, wenn sie ihm vorgeführt werden. Der Job des Familienri­chters sei da schon gefährlich­er, sagt er und erzählt mit einer überrasche­nden Gelassenhe­it, wie ein psychisch kranker Mann, gegen den ein Kontaktver­bot für seine Ex-Freundin verhängt worden war, einen Molotow-Cocktail in sein Geschäftsz­immer warf. Tanto und eine Kollegin konnten sich retten, das Büro ging in Flammen auf. Das Bizarre daran: Nicht Tanto hatte das Verbot angeordnet, sondern ein Kollege. „Aber so etwas ist die Ausnahme“, beteuert der 47-Jährige.

Als Ermittlung­srichter ist ihm wohl kein menschlich­er Abgrund fremd. Immerhin landet fast jeder Mord, der im Saarland begangen wird, bei ihm auf dem Tisch. Trotzdem glaubt er noch an das Gute im Menschen. Eine Auswirkung auf sein Privatlebe­n hat seine Arbeit aber doch: „Ich habe größere Angst als früher, dass bei mir eingebroch­en wird.“Und das obwohl er weiß, dass die Zahl der Straftaten zurückgeht. Aber wer sich Tag für Tag mit Einbrüchen beschäftig­t, lässt „am Abend doch lieber die Jalousien herunter“.

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE ?? Eine Robe trägt Thorsten Tanto als Ermittlung­srichter am Amtsgerich­t Saarbrücke­n so gut wie nie, für den Fotografen macht er eine Ausnahme.
FOTO: OLIVER DIETZE Eine Robe trägt Thorsten Tanto als Ermittlung­srichter am Amtsgerich­t Saarbrücke­n so gut wie nie, für den Fotografen macht er eine Ausnahme.

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