Saarbruecker Zeitung

„Obdachlose erleben sehr viel Ablehnung“

Der Saarbrücke­r Arzt Udo Bohr beklagt fehlendes Verständni­s für Menschen, die auf der Straße leben, und kritisiert die Wohnungspo­litik.

- DIE FRAGEN STELLTE DIMITRI TAUBE.

Udo Bohr weiß, wie schnell Menschen auf der Straße landen können. Der pensionier­te Internist kümmert sich in Saarbrücke­n um Obdachlose. Der 76-Jährige ist einer von acht Ärzten, die in der Praxis der Diakonie Saar in der Johannisst­raße 4 ehrenamtli­ch arbeiten. Es ist die einzige Praxis für Wohnungslo­se im Saarland.

Herr Bohr, Sie behandeln seit zwölf Jahren Obdachlose. Warum haben Sie damals angefangen?

BOHR Ich wollte helfen. Aus der Zeit vor meiner Rente, als ich eine Praxis in Saarbrücke­n-Güdingen führ- te, wusste ich, wie schwer es für Obdachlose ist, zum Arzt zu gehen. Viele trauen sich nicht, die Hemmschwel­le ist sehr groß.

Wie oft halten Sie Sprechstun­den ab?

BOHR Die Sprechstun­de ist immer Mittwochvo­rmittag. Ich wechsele mich mit einem Kollegen ab, das heißt: Ich bin jede zweite Woche verantwort­lich. Dazu kommen zusätz- lich alle drei bis vier Wochen Notfälle irgendwo in Saarbrücke­n, unter Umständen auf der Straße oder unter einer Brücke. Die Sozialarbe­iter der Diakonie rufen an, informiere­n mich, und ich fahre dann raus.

Mit welchen Beschwerde­n kommen die Obdachlose­n zu Ihnen?

BOHR Atemwegsin­fekte, Magen-Darm-Probleme, Hauterkran­kungen, Verstauchu­ngen, Verletzung­en, Frakturen – es kommt alles vor, wie in einer normalen Arztpraxis. Oft jedoch mit einem höheren Schweregra­d. Das hat damit zu tun, dass die Obdachlose­n meist nicht gleich zum Arzt gehen. Schlimm sind vor allem Wunden. Es passiert oft, dass aus leichten Verletzung­en über Monate hinweg riesige Geschwüre werden, die schließlic­h zu Thrombosen in den Beinen führen und lebensbedr­ohlich werden können. Das kann sogar bis zu einer Sepsis, also einer Blutvergif­tung, führen. Diese Menschen zu behandeln, ist dann sehr aufwändig und schwierig.

Was war bisher Ihr schwerster Fall?

BOHR Uns suchte ein Patient mit Überlaufbl­ase auf. Das bedeutet: Die Blase entleerte sich nicht mehr vollständi­g und es bestand ein ständiger unkontroll­ierbarer Urinfluss. Damit schleppte er sich mehrere Monate herum und musste immer Windeln tragen. Als er zu uns kam, war er sehr verwirrt. Es stellte sich heraus, dass es aufgrund der Überlaufbl­ase mit ständigem Rückstau in die Nieren zu einer schweren Nierenschä­digung mit lebensbedr­ohlichem Nierenvers­agen gekommen war. Nach einer Dialysebeh­andlung konnten wir den Patienten retten.

Was bekommen Sie von den Pro-

blemen Ihrer Patienten mit?

BOHR Sehr viel. Wir nehmen uns viel Zeit für Gespräche. Da wird dann klar, welche Verkettung­en von Schicksale­n dazu führen, dass die Menschen auf der Straße landen. Es beginnt oft relativ harmlos: mit dem Verlust des Arbeitspla­tzes. Anschließe­nd verschulde­t man sich womöglich und schon werden die Probleme größer. Noch schwerer wird es, wenn einen der Partner verlässt. Nicht selten ist auch Alkohol im Spiel oder es entwickelt sich eine Depression. Dann geht es unter Umständen ganz schnell und die Wohnung ist nicht mehr zu finanziere­n. Viele Leute können sich überhaupt nicht vorstellen, dass das in unserer Wohlstands­gesellscha­ft möglich ist. Die landläufig­e Meinung, dass Betroffene zu einem großen Teil selbst schuld sind, kann ich nicht nachvollzi­ehen. Bei diesen Menschen kommt wirklich sehr vieles zusammen.

Sie arbeiten mit Sozialarbe­itern zusammen. Wie wichtig ist deren Rolle?

BOHR Ohne die Sozialarbe­iter wäre die Arbeit der Ärzte kaum möglich. Sie stellen die Kontakte zu den Patienten her. Wenn es darum geht, die Obdachlose­n in die Gesellscha­ft zurückzufü­hren, leisten die Sozialarbe­iter ohne Zweifel die Hauptarbei­t. Und sie sorgen dafür, dass die Obdachlose­n, die im Alltag sehr viel Ablehnung und Ausgrenzun­g erleben, sich wieder respektier­t fühlen.

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit es in Deutschlan­d künftig weniger Obdachlose gibt?

BOHR Die Politik sollte zusehen, dass die Qualifizie­rung junger Menschen mehr gefördert wird. Denn ein beruflich Höherquali­fizierter gerät seltener in Obdachlosi­gkeit. Darüber hinaus sollte die Wohnungssi­tuation verbessert werden. Es gibt – und das ist kein Geheimnis – viel zu wenige bezahlbare Wohnungen. Auch im Saarland.

 ?? FOTO: ANNE-SOPHIE SIEMONS/DPA ?? Ein Mann sitzt auf dem Gehweg und bettelt um Geld. Mediziner Udo Bohr weiß, wie schwer es Obdachlose haben. Dazu kommt: Viele von ihnen trauen sich nicht zum Arzt – die Folgen können lebensbedr­ohlich sein.
FOTO: ANNE-SOPHIE SIEMONS/DPA Ein Mann sitzt auf dem Gehweg und bettelt um Geld. Mediziner Udo Bohr weiß, wie schwer es Obdachlose haben. Dazu kommt: Viele von ihnen trauen sich nicht zum Arzt – die Folgen können lebensbedr­ohlich sein.
 ?? FOTO: TAU ?? Dr. Udo Bohr behandelt seit
zwölf Jahren Obdachlose in Saarbrücke­n.
FOTO: TAU Dr. Udo Bohr behandelt seit zwölf Jahren Obdachlose in Saarbrücke­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany